300 —
ein rechtes Höllenfeuer angemacht, daß die schöne, junge Königin
bald ersticken mußte.
Als das vollbracht war, nahm die Alte ihre Tochter, setzte ihr
eine Haube auf und legte sie ins Bett an der Königin Stelle. Sie
gab ihr auch die Gestalt und das Ansehen der Königin, nur das
derlorene Auge konnte sie ihr nicht wiedergeben. Damit es aber
der König nicht merkte, mußte sie sich auf die Seite legen, wo sie
kein Auge hatte. Am Abend, als er heimkam und hörte, daß ihm
ein Söhnlein geboren war, freute er sich herzlich und wollte ans
Bett seiner lieben Frau gehen und sehen, was sie machte. Da rief
die Alite geschwind: „Beileibe, laßt die Vorhänge zu, die Königin
darf noch nicht ins Licht sehen und muß Ruhe haben.“ Der König
ging zurück und wußte nicht, daß eine falsche Königin im Bette lag.
Als es aber Mitternacht war und alles schlief, da sah die
Kinderfrau, die in der Kinderstube neben der Wiege saß und allein
noch wachte, wie die Tür aufging und die rechte Königin hereintrat.
Sie nahm das Kind aus der Wiege, legte es in ihren Arm und
gab ihm zu trinken. Dann schüttelte sie ihm sein Kißchen, legte es
wieder hinein und deckte es mit dem Deckbettchen zu. Sie vergaß
aber auch das Rehchen nicht, ging in die Ecke, wo es lag, und
streichelte es über den Nücken. Darauf ging sie ganz stillschweigend
wieder zur Tür hinaus, und die Kinderfrau fragte am andern
Morgen die Wächter, ob jemand während der Nacht ins Schloß
gegangen wäre; aber sie anworteten: „Nein, wir haben niemand
gefehen.“ So kam sie viele Nächte und sprach niemals ein Wort
dabei; die Kinderfrau sah sie immer; aber sie getraute sich nicht,
jemand etwas davon zu sagen.
Als nun so eine Zeit verflossen war, da hub die Königin in
der Nacht an zu reden und sprach:
„Was macht mein Kind? was macht mein Reh?
Nun komm' ich noch zweimal und dann nimmermehr.“
Die Kinderfrau antwortete ihr nicht; aber als sie wieder verschwunden
war, ging fie zum König und erzählte ihm alles. Da sprach der
König: „Ach Gott, was ist das! Ich will in der nächsten Nacht
bei dem Kinde wachen.“ Abends ging er in die Kinderstube; aber
um Mitternacht erschien die Königin wieder und sprach:
„Was macht mein Kind? was macht mein Reh?
Nun komm' ich noch einmal und dann nimmermehr.“
Und pflegte dann des Kindes, wie sie gewöhnlich tat, ehe sie ver⸗
schwaub Der Koönig getraute sich nicht, sie anzureden, abber er
wachte auch in der folgenden Nacht. Sie sprach abermals:
„Was macht mein Kind? was macht mein Reh?
Nun komm' ich noch diesmal und dann nimmermehr.“