Full text: Lesebuch für die Oberklassen katholischer Volksschulen des Regierungsbezirks Düsseldorf

102 
„Der erste!" sagte mein Alter. 
Wieder ging eine Zeit hin, und einmal kam das Kanonen¬ 
schießen so nahe, daß die Leute vor das Tor liefen, es zu hören; 
natürlich liefen mein Gottfried und ich mit. Da kamen bald aus 
der Gegend her, wo es so rollte und donnerte, Wagen mit Ver¬ 
wundeten, Freund und Feind durcheinander, und immer mehr und 
mehr. Die wurden alle in die Stadt gebracht. „Herr, mein Hei¬ 
land!" muß ich auf einmal ausrufen, „ist das nicht der Piär von 
damals, von Anno Sechs?" 
Richtig, er war's. Mit abgeschossenem Bein lag er ans dem 
Stroh und wimmerte ganz jämmerlich. „Den nehm' ich mit," sagte 
mein Alter und bat ihn sich aus, und wir brachten ihn hier ins 
Haus. Da kurierten wir ihn. Als er besser wurde, hatte mein 
Mann oft seine Reden mit ihm. Einmal war der Franzos oben¬ 
auf, einmal mein Alter. Da hieß es plötzlich, die Deutschen seien 
wieder geschlagen und der Napoleon abermals Obermeister. Mein 
Alter sah den Wilhelm bedenklich an, als ginge er mit sich zu Rat; 
als aber in der Nacht die Sturmglocken auf allen Dörfern läuteten, 
wußte ich, was geschehen wurde, und weinte die ganze Nacht, und 
am Morgen zog auch mein Wilhelm fort mit den grünen Jägern 
zu Fuß. Vorher aber führte ihn mein Alter noch an das Bett des 
Franzosen und sagte: „Das ist der zweite!" Der Franzos 
schaute ganz kurios drein und sagte gar nichts, sondern drehte sich 
nach der Wand. Das Kanonenschießen kam nun nicht wieder so 
nah, und der Wilhelm schrieb von großen Schlachten, wo viele 
tausend Menschen zu Tode kamen, aber er nicht, und die Briefe 
kamen immer ferner her, und auf einmal standen gar welsche Na¬ 
men darauf. Die brachte mein Alter dem Franzos herauf, der nun 
schon ganz gut Deutsch konnte, und sagte lachend zu ihm: „Nun, 
Gevatter! Nit raus? nit raus?" Und der Franzos machte ein 
gar erbärmlich Gesicht und sagte, den Brief in der Hand haltend: 
„Das sein mein Eimatsvrt, da wohnen mein Vater und mein 
Mutter!" Mein Alter aber saß am Bett und rechnete an den Fin¬ 
gern: „Eins, zwei, vier, — acht. Acht Jahre, Gevatter Franzos! 
Warum habt Ihr meine zwölf nicht genommen?" 
Die Briefe von unserm Wilhelm kamen nun immer ferner, 
und auf einmal blieben sie ganz ans, und eines Tages — kommt 
mein Alter nach Haus, setzt sich an den Tisch, legt den Kopf auf 
beide Arme und — weint. Ich dachte, der Himmel siele über 
mich,-der und weinen! — 
„Der andere!" stöhnte mein Alter in sich hinein, und ich siel 
in Ohnmacht zu Boden.
	        
Waiting...

Note to user

Dear user,

In response to current developments in the web technology used by the Goobi viewer, the software no longer supports your browser.

Please use one of the following browsers to display this page correctly.

Thank you.