25
3. Kein Lebenszeichen von der liebsten Hand,
Von jener, die sie sorglich hat gelenkt,
Als sie zum erstenmal zu festem Stand
Die zarten Kinderfüßchen hat gesenkt;
Versprengter Tropfen von der Quelle Rande,
Harrt sie vergebens in dem fremden Lande;
Die Tage schleichen hin, die Woche schwand.
4. Was ihre rege Phantasie geweckt? —
Ach, eine Leiche sah die Heimat schon,*)
Seit sie den unbedachten Fuß gestreckt
Auf fremden Grund und horte fremden Ton;
Sie küßte scheidend jung' und frische Wangen,
Die jetzt von tiefer Grabesnacht umfangen;
Jst's Wunder, daß sie tödlich aufgeschreckt?
5. In Träumen steigt das Krankenbett empor,
Und Züge dämmern wie in halber Nacht;
Wer ist's — sie weiß es nicht und spannt das Ohr,
Sie horcht mit ihrer ganzen Seele Macht;
Dann führt sie plötzlich auf beim Windesrauschen
Und glaubt dem matten Stöhnen noch zu lauschen
Und kann erst spät begreifen, daß sie wacht.
6. Doch sieh, dort fliegt sie übern glatten Flur,
Ihr aufgelöstes Haar umfließt sie rund,
Und zitternd ruft sie mit des Weinens Spur:
„Ein Brief! ein Brief! die Mutter ist gesund!"
Und ihre Thränen stürzen wie zwei Quellen,
Die übervoll aus ihren Ufern schwellen;
Ach, eine Mutter hat man einmal nur!
18. Die Geschwister.
Gustav Josephson. *
Ein junges Mädchen aus Braunschweig hatte sich nach Elberfeld
verheiratet. Vater und Mutter waren früh gestorben, und nur ein Bruder
in Braunschweig war am Leben geblieben, den die Schwester und der die
Schwester mit der innigsten Liebe liebte. Briefe flogen hin und her und
*) Seitdem diese größere Tochter in der Ferne weilt, ist eines ihrer kleineren Ge¬
schwister gestorben.