Full text: Lesebuch für städtische und gewerbliche Fortbildungsschulen

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Lebensweise und gewissenhafte Benutzung der Zeit und Kraft 
machten dies möglich. Bei Hohen und Niederen war er kurz an¬ 
gebunden in der Rede. Des Tages pslegte er nur einmal zu essen. 
Ein kleiner Vorrat von Brot fand sich in den Taschen seines Wagens 
stets vor. Solche beinahe übermenschliche Tätigkeit entfaltete der 
Mann, der sich fast nie ganz gesund fühlte. Oft war er vom Pferde 
gestürzt und hatte sich innere und äußere Verletzungen zugezogen. 
Auch im Alter gönnte er sich keine Ruhe. Selbst Unglück und Un¬ 
dank'konnten seine aufopfernde Tätigkeit und seinen Lebensmut 
nicht schwächen oder lähmen. Mit Mut und Ausdauer harrte er 
auf seinem Posten aus. 
Heim lebte sehr einfach und richtete seine Wirtschaft möglichst 
sparsam ein. Seine Frau stand ihm darin wacker zur feite. Durch 
weise Sparsamkeit war es möglich, jährlich etwas zu erübrigen und 
allmählich ein gewisses Vermögen anzusammeln, das Heim den Sei- 
nigen zu hinterlassen hoffte. Er gab das Geld in ein Handlungs¬ 
haus, das einen guten Ruf hatte ltnb volle Sicherheit zu gewähren 
schien. Aber die Sache änderte sich. Es kam die Zeit, da die Fran¬ 
zosen ihre Macht über Norddeutschland ausbreiteten und durch 
Plünderungen, Steuern, Einquartierungen und Lieferungen die 
Länder aussagen. 
Das waren schlimme Tage. Handel und Wandel stockten, die 
Gewerbe lagen darnieder, der Wohlstand schwand, und mancher, 
der früher ohne Sorgen gelebt hatte, mußte zum Bettelstäbe greifen. 
In dieser trüben Zeit, in der so manches blühende Unternehmen zu 
gründe ging, ging auch jenes Handelshaus unter, dem Heim sein 
Geld anvertraut hatte, und Heim verlor sein ganzes sauer erwor¬ 
benes Vermögen. Das war ein harter Schlag für einen angehenden 
Sechziger. Nach einigen Tagen besuchte ihn ein lieber Freund und 
redete ihn also an^ 
„Es hat mir herzlich leid getan, daß du einen so harten Ver¬ 
lust erlitten hast." 
„Ja," antwortete Heim, „zwei Tage war ich sehr geschlagen, 
aber jetzt habe ich's, Gott sei Dank, überwunden." 
„Wie hast du das angefangen?" fragte ihn verwundert der 
Freund. 
t „So, wie ich immer tue, wenn ich mir selber nicht zu raten 
weiß," erwiderte Heim. „Ich konnte anfangs den Verlust gar nicht 
vergessen. Tag und Nacht mußte ich daran denken. Wenn ich bei 
meinen Kranken war, mußte ich mir Mühe geben, meine Gedanken 
zusammenzunehmen; wenn ich zu Hause war, ließ ich den Kopf 
hängen; wenn ich bei Tische saß, schmeckte mir kein Essen; meine 
Kinder waren verschüchtert. So konnte es nicht bleiben. Ich ging 
in die Kammer und bat Gott auf meinen Knien, daß er mir wieder 
Ruhe und Mut gebe. Da war es mir, als ob der Herr zu mir 
spräche: Heim, du bist eines armen Pastors Sohn, und ich habe dich 
gesegnet in deinem Hause. Jahrelang habe ich dir dein Geld ge- 
lassen, jetzt habe ich dir's genommen. Nun höre auf zu jammern,
	        
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