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58. Das katholische Kirchenjahr.
* Johannes von Geissel.
Wenn draußen in der Natur die Jahreszeiten vorübergehen,
dann durchlebt die Kirche mit ihren Kindern zu den Füßen des Altars
die wechselnden Zeiten des christlichen Kirchenjahres.
Die Kirche bereitet im Beginne des Kirchenjahres die Herzen
ihrer Gläubigen auf die baldige Ankunft des Erlösers vor; sie führt
ihre Kinder mit den hirten zur Krippe im Stall und begeht das Fest
der Beschneidung des Erlösers, in welchem alle Verheißung erfüllt ist.
Die Rirche begleitet mit ihren Kindern die Weisen aus dem Morgen—
lande nach Bethlehem und kniet anbetend und opfernd nieder vor dem
Gottmenschen und Könige der Welt. Sie folgt dem göttlichen Lehr—
meister auf seinen Wanderungen und ist von Sonntag zu Sonntag
Zeugin seiner Lehren und Wundertaten, als wandelte er noch sichtbar
auf Erden unter uns. Die Kirche zieht am Palmsonntag mit dem
Sohne Davids feierlich in Jerusalem ein und begeht mit ihm das
letzte Abschiedsmahl im Kreise seiner Jünger. Sie begleitet den herrn
auf seinem Leidenswege zum Garten Gethsemane, zu seinen ungerechten
Richtern und auf dem letzten Todesgange; sie sieht den Erlöser am
Kreuze verscheiden und geleitet ihn trauernd zu der Felsengruft, in der
ihn seine Freunde begruben. Dann aber feiert sie nach drei Tagen das
christliche Frühlingsfest, seine glorreiche Auferstehung, mit freudigem
halleluja und folgt dem von den Toten Erstandenen auf den Olberg,
wo er, vor den Augen der Jünger verklärt, in den himmel auffährt.
Die Rirche erwartet mit den Getreuen des herrn die Ankunft des
heiligen Geistes, sie bekundet am folgenden Sonntage ihren Glauben
an die hochheilige Dreifaltigkeit und verherrlicht am Fronleichnamsfeste
die lebendige Gegenwart unsers herrn Jesu Christi im heiligen Altars—
sakramente mit feierlichem Umzuge und all dem reichen Schmucke, den
nur der vorgerückte Sommer zu bieten vermag.
Außer diesen Festen des Erlösers feiert die Kirche auch die Er—
innerungstage seiner Allerseligsten Mutter und ebenso die Gedenktage
der Apostel, Märtyrer, Bekenner und Jungfrauen und aller seiner
heiligen zur Erinnerung an die großen Beispiele, denen wir folgen
sollen. Und wenn draußen der schwindende Herbst die welken Blätter
verweht und die sterbende Natur dem Tode des Winters zugeht, dann
beschließt sie das christliche Jahr mit dem Feste Allerseelen zur weh—
mütigen Erinnerung an die lieben Verstorbenen, die aus der streitenden
Kirche zur leidenden hinübergegangen sind, und fleht mit frommen
Gebeten zum herrn, damit er sie aufnehme in seine triumphierende
Kirche, in seine selige Ewigkeit.