Full text: Lesebuch für Brandenburg

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30. Ein falsoher Freund. 
I. Traue keinem Freunde, ehe du von seiner Aufrichtigkeit überzeugt 
bist! So mancher schleicht sich mit verführerischen Worten an den Men- 
schen heran, um ihn nur um so sicherer verderben zu können. Zu diesen 
falschen Freunden gehört auch der Branntwein. 
„lch wärme dich“, spricht er zu dem frierenden Wanderer, dem bei 
ssstrenger Vinterkãlte ein Wirtshausschild am Wege winkt. „Nimm schnell 
ein Glãschen, dann magst du weitergehen; du wirst sehen, wie es danach 
warm durch deine Glieder zieht.“ — Warm wird's dem getauschten Manne 
wohl; aber wie lange hält dieses Wärmegefühl stand? Gar bald macht es 
einer um so empfindlicheren Kälte Platz. Jenes Kreuz dort am Wege zeigt 
dir die Stelle, wo er erfroren aufgefunden wurde. 
2. „Ich stãrke dich“, sagt er zum Holzhacker, der ermüdet und schweib- 
triefend vor seinem Holzsstobe steht. „Trinke nur einmal ein Schlückchen; 
fühlst du nicht, wie so ein paar Tröpfchen stãrken können?“ — Sahst du 
gchon einen abgetriebenen Gaul mit auf und ab gehenden Flanken mühsam 
seinen schweren Karren den Berg hinanschleppen? — „Ich mub mein Röb- 
lein einmal sstãrken“, denkt der Fuhrmann, schlägt das geplagte Tier, und 
sssiehe da, es zieht wieder besser. Du glaubst doch nicht, dab die Peitsche 
dem Tiere neue Kraft gegeben habe? Sie treibt es wohl für einen Augen- 
blick zu verdoppelter Anstrengung an; aber um so schneller ermattet es 
völlig. So treibt der Schluck Branntwein das Blut einen Augenblick 
schneller durch die Adern und lãbt die Mattigkeit vergessen. Aber Kraft 
gibt er nicht, und je öfter er genommen wird, um so schneller und sicherer 
ruiniert er den Körper. 
3. „Ich heile dich“, tröstet er den Kranken. „Schau dich nur einmal 
in der Apotheke recht um; dort stehe ich mitten zwischen den Arzneimitteln. 
Sicher helfe ich dir.“ — Könnten unsre Ciftpflanzen nicht mit gleichem 
Rechte so sprechen? Warum hãlt aber der Apotheker ihren Saft so sorgsam 
verschlossen? Damit nicht leichtsinnig mit dem Gifte umgegangen werde 
und nicht jeder davon bekomme; nur auf Verordnung des Arztes verabreicht 
er davon. Unser falscher Freund aber hat es verstanden, der Apotheke 
zu entfliehen. Als Lebenswasser für Kranke verschrieben, bewährte er 
sich seit Jahrhunderten. Heute aber, wo er jedermann zugänglich ist, lügt 
or gerade so, wie der Teufel die Eva belog, wenn er sagt: „Ich heile dichl 
4. „Ich mache munter und froh“, verspricht er dem Mutlosen. „Höre 
nur, wie deine Kameraden lachen und singen! Siehe, wie sie sich brüderlich 
umarmen und necken! Ist es nicht eine Lust, in ihrer Mitte zu sein?“ — 
Folge mir einen Augenblick in ein Gefangnis und frage dort die Messerhelden 
und Totschlãger, wer sie hinter Schlob und Riegel gebracht habe. Die 
meisten werden dir mit geballter Faust antworten: „Dieser Lustigmacher, 
der Branntwein!“ — Begleite mich in eine Irrenanstalt. VWoher kommt's, 
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