L. Der Mensch und Gott.
1. Herr, du bist groß.
J. G. Seidl.
„Herr, du bist groß!“ So ruf' ich, wenn im Osten
der Tag wie eine Feuerros' erglüht,
wenn, um den Reiz des Lebens neu zu kosten,
Natur und Mensch in junger Kraft erblüht.
Wo lässest du, o Herr, dich güt'ger sehen
als in des Morgens großem Auferstehen?
„Herr, du bist groß!“ So ruf' ich, wenn's von Wettern
am Mittagshorizonte zuckend droht,
und du mit deines Blitzes Flammenlettern
auf Wolkentafeln schreibst dein Machtgebot.
Wo wärst, o Herr, furchtbarer du zu schauen
als im empörten Mittagswettergrauen?
„Herr, du bist groß!“ So ruf' ich, wenn im Westen
der Tag sein Auge sanft bewältigt schließt,
wenn's in den Wäldern schallt von Liederfesten,
und süße Wehmut sich aufs All ergießt.
Wodurch, o Herr, stimmst du das Herz uns milder
als durch den Zauber deiner Abendbilder?
„Herr, du bist groß!“ So ruf' ich, wenn das Schweigen
der Mitternacht auf allen Landen liegt,
die Sterne funkelnd auf- und niedersteigen
und sich der Mond auf Silberwölkchen wiegt.
Wann winkst du, Herr, erhabner uns nach oben,
als wenn dich stumm die heil'gen Nächte loben?
Herr, du bist groß in jeglichem Erscheinen,
in keinem größer, stets der größle nur;
du führst im Staunen, Lächeln, Graun und Weinen,
in jeder Regung uns auf deine Spur.
Herr, du bist großl O, laß mich's laut verkünden
und selbst mich groß in deiner Größe finden!
Berlinisches Lesebuch. Oberstufe II.