Full text: Lesebuch für die Oberstufe der evangelischen Volksschulen des Herzogtums Oldenburg

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arg war. Wer bei schlechtem Wetter ausging, fuhr in schwere Holzschuhe; von 
den Ratsherren wurde gefordert, daß sie diese vor der Sitzung auszogen. 
Auf den Straßen sind die Brunnen häufig, es sind einfache Ziehbrunnen 
mit Rolle, Ketle und Doppeleimer; wird der eine heraufgewunden, so fährt der 
andere zur Tiefe; wo gutes Wasser fehlt, sind die Stãdle seit ältester Zeit be⸗ 
müht gewesen, reine Quellen und Bäche in die Stadt zu leiten. So hat sich 
Golha mit Hilfe eines kunstreichen Mönchs eine Wasserader wohl zwei Stunden 
weit über Täͤler und zwischen Höhen zugeführt. Auf den Plätzen der Stadt 
standen bei laufenden Brunnen Schöpftröge von Stein und Metall, und an ge⸗ 
legenen Stellen gefüllte Wasserbottiche für den Fall einer Feuersgefahr. 
Sehr unähnlich der heutigen Bauweise sind die Straßen der Stadt, sie 
ziehen sich meist enge gewunden dahin; die Haäuser sind oft klein, von Fachwerk 
gebaut, mit Stroh gedeckt, sie stehen mit dem Giebel der Straße zugekehrt, in der 
Regel nicht dicht beieinander, denn zwischen ihnen sind Schlüpfe, in denen das 
Regenwasser herabgeleitet wird. Die Eingänge sind häufig mit einer Halbtür 
versehen; über der Tür hängt an einem Schild das gemalte Zeichen des Hauses; 
oft wird der Besitzer nach seinem Hausbilde genannt. Die Häuserlinie läuft 
nicht glatt und senkrecht, ein Oberstock oder zwei — die Gaden — springen 
iber das untere Slockwerk vor, der zweite wieder über den ersten, und darin 
sind wieder Erker und Söller. An dem Erdgeschoß der Häuser sind auf der 
Slraße Schuppen und Buden angebaut, auch die Hauskeller öffnen sich auf die 
Straße, und die Kellerhälse ragen bis in den Fahrweg. Zwischen den Häusern 
erheben sich großartige Kirchen, riesige, kunstvolle Bauten, in denen die Bürger— 
schaft mit Stolz zeigt, was Geld und Arbeit in ihr vermag. Zahlreich sind 
die Gotteshäuser, außer den Stadtkirchen kleinere Kirchen und Kapellen, vornehme 
Stifter und Klöster der Bettelorden. Mönche und Nonnen verschiedener Trachten 
sind in der Stadt zu sehen. 
Die Stadt hat einige Stadtschulen, welche von den Pfarrgeistlichen beauf⸗ 
sichtigt werden, auch eine höhere lateinische Schule mit einem lateinischen Lehrer, 
einem angesehenen Manne, der vom Rat besoldet wird. Er hat großen Zulauf 
von armen Schülern aus der Fremde, welche bei den Bürgern betteln und durch 
Almosen erhalten werden. 
Die Stadt baut gerade ein schönes Rathaus, zierlich und schmuckvoll, darin 
einen Saal für die großen Feste der Stadt und ansehnlicher Bürger. Aber 
zwischen Dom und Rathaus ist eine kunstlose Wasserpfütze mit schwimmenden 
Enten, und daneben steht der deutsche Dorfbaum, die alte Linde; sie ist dem 
Burger Erinnerung an eine Zeit, wo seine Stadt noch nicht war, und wo die 
Waldvögel in den Zweigen sangen, auf denen jetzt nur die Sperlinge sitzen und 
im Winter die Krähen. 
Der Morgen wird den Bürgern durch Geläut verkündet, und die Glocken 
der zahlreichen Gotteshäuser tönen fast den ganzen Tag hindurch. Ihr Ton 
ist dem Bürger herzlich lieb, er umklingt ihm das ganze Leben, wie er seinen 
Vorfahren getan. Wenn der Heimkehrende den Glockenklang seiner geliebten 
Sladt auf dem Felde hört, dann hält er still und betet. Darum ehrt er seine 
Glocken wie lebende Wesen; er gab ihnen Frauennamen, den großen am liebsten 
Anna, Susanna, und er war geneigt, ihnen ein geheimnisvolles Leben anzudichsen, 
denn sie läuten noch in versunkener Stadt, tief unter der Erde oder im Wasser. 
Allmaͤhlich werden Turmuhren eingeführt. Bis zu ihnen hat nur das Geläute 
de e Segeseilen der Kirche gemeldel und daneben das Horn oder die Trompete 
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