352
VI. Geistliches und
Sie spannten das große Papier straff aus, und Friedrich führte den Schnitt,
der allen ins Herz ging. Auf den Boden fiel der ruhende Ritter mit dem
Falkenschild, es fielen die grünen Hügel der fremden Landschaft samt der
brennenden Burg, und es fielen die vier untersten Schilde, auf denen die
Namen des Vertriebenen, seines Sohnes, seines Enkels und seines Urenkels
zu lesen waren. Alle schwiegen. Martha nahm den Streifen und legte ihn
unter die Pergamente. Dann schichtete sie ringsum viele harzige Späne
und dürre Scheiter und griff zum Feuerzeug. Der Greis ließ das größere
Stück des zerschnittenen Stammbaumes zusammenrollen und in die Truhe
legen. Dann aber bat er Martha, sie möchte ihm doch die zuletzt in den
Kamin geworfene Pergamenturkunde, an der drei Siegel hingen, herauf—
reichen. Sie gehorchte, und er barg das Stück wieder in der leeren Truhe
neben dem Stammbaum, indem er sagte: „Das kann als eine Erinnerung
bleiben; es ist zwar auch eine alte Kerdern-Urkunde, ohne die anderen aber
hat sie keine Beweiskraft. Und nun, mein Kind, entzünde das Ganze in
Gottes Namen!“
Martha schlug Feuer, entzündete am glühenden Zunder einen Schwefel⸗
span und hielt ihn an den Stammbaumstreifen, der zu unterst lag. Eine
kleine Flamme schlug aus dem alten Papier, und der Wiederschein erglühte
auf ihrem Antlitz. Dann begannen die dürren Späne zu knistern und zu
krachen, Funken sprühten, immer weiter leckten die Flammen, aus den Scheitern
schlug prasselnd das rote Feuer, und zuletzt ging das feindselige Element
an die Pergamente und fraß die vergilbten Zeugnisse mit ihrer geheimnis—
vollen Schrift und fraß die ehrwürdigen Siegel, daß ihr Wachs zerfloß;
und die große Elut spiegelte sich jetzt auch auf dem faltigen Gesichte des
alten Mannes, der sich in seinem Stuhle vorgebeugt hatte und sinnend auf
die Zerstörung herabschaute.
Nach einiger Zeit ward das Feuer kleiner und kleiner, der Haufe fiel
zusammen, die Flammen sanken herab, und zuletzt lagen schwarzgraue Aschen—
blätter da, über deren gerollte Flächen eilig die letzten Fünklein hinwegliefen.
Jetzt war die Sonne untergegangen, und aus den Stubenecken kam die
Dämmerung hervor. Draußen lag eine warme Luft über dem Dorf und
über den Feldern und über den Waldhügeln. Pfeifend strichen die Schwalben
an den Mauern des Klosters auf und nieder, drunten in den Gassen des
Dorfes spielten die Kinder, und ihr Jauchzen klang zuweilen herauf. — In
der dämmerigen Stube aber war es ganz still. Sverl.
221. Der Engel der Geduld.
1. Es zꝛieht ein stiller Engel
dureh dieses Erdenland;
zum Trost für Erdenmãängel
hat ihn der Herr gesandt.
In geinem Blick ist Prieden
und milde, sanfte Huld.