Full text: Lesebuch für die Oberklassen der Elementarschulen in Elsaß-Lothringen

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üllen Kämpfen unbezwungener Sieger, ernst und stolz gen Himmel 
des Stephansdomes altersgrauer Riesenturm. Neben ihm verschwin⸗ 
den die zahlreichen andern Türme und die Kuppeln der Kaiserstadt. 
Wo eigentlich die Marken der Stadt beginnen, suchst du vergebens 
zu unterscheiden; denn alle Orte, nahe und ferne, mit ihren aus 
Gärten und Saaten und Rebhügeln auftauchenden roten Dächern und 
sierlichen Türmen scheinen nur neue Anbaue der Kaiserstadt. Kaum 
schmilzt der Schnee auf den Bergen, kaum beginnen die Wälder im 
frischen Grün zu prangen, so sind alle jene sanften Höhen, jene reizen— 
den Thäler, die dich so anheimeln, von Kolonien lustiger Wiener be— 
völkert. Denn der Wiener liebt die Natur und versteht die Kunst, sie 
zu genießen. Doch inniger noch als die Natur liebt er sein Wien. 
Es ist ihm sein Höchstes, sein Stolz, seine steinerne Bibel mit tausend 
und abertausend heiligen Blättern, die er in der Ferne so wenig ver— 
gißt wie der Alpenbewohner seine Gletscher und Firnen.“ 
Unter den vielen öffentlichen Vergnügungsorten, in denen wir 
das Wiener Leben in seiner Gemütlichkeit und Ausgelassenheit zugleich 
beobachten können, zeichnen sich besonders zwei aus. Vor allen bekannt 
ist der in der Nähe der Stadt auf einer ausgedehnten Donauinsel 
mit üppigem Wiesengrunde gelegene Lustgarten, Prater genannt, welcher, 
abwechsclnd Garten- und Waldpartieen darbietend, fortwährend von 
den fröhuichen Wienern fleißig besucht wird, und in dessen langer, 
prachtvoller Hauptallee oft Tausende von Karossen mit geschmückten 
Herren und Damen sich hin und her bewegen. Der eigentliche Tummel— 
platz des Volkes ist der sogenannte Wurstlprater, wo unzählige Volks— 
massen in Kaffee⸗, Bier- und Weinhäusern, Kegelbahnen, Schaukeln, 
Karussells und Panoramen, oder bei Marionettenspielern, Kunstreitern 
und dergleichen, welche ihre Zelte zwischen den grünen Bäumen auf— 
geschlagen haben, dem Vergnügen nachgehen. Denn ein Hauptzug 
des Wiener Charakters ist Leben und Lebenlassen. Selbst mitten 
unter ernsten Bedrängnissen verläßt den Wiener sein fröhlicher Mut, 
der oft in ausgelassene Laune übersprudelt, so leicht nicht. Auch die 
Vrigittenau ist gar ost der Schauplatz der Lustbarkeiten des Volkes, 
besonders an dem allgemeinen Volksfeste, welches am Brigittenkirch— 
tage dort begangen wird. Da strömen viele Tausende zusammen, reich 
und arm, jung und alt; kein Unterschied des Ranges und Standes 
gilt; alle huldigen nur der Freude des Augenblicks. Auf dem grünen 
Rasen lagern ganze Familien, während andere in vielen Hunderten 
don geschmückten Zelten oder in dem bei der Kapelle erbauten Jäger— 
hause sich gütlich thun. Türkische Musik, Jubel und Lärmen von
	        
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