Full text: Lesebuch für die Oberklassen der Elementarschulen in Elsaß-Lothringen

67 
14. Frohe Botschaft. 
l. Nach langem, bangem Winterschweigen 
willkommen, heller Frühlingsklang! 
Nun rührt der Saft sich in den Zweigen 
und in der Seele der Gesang. 
Es wandelt unter Blütenbäumen 
die Hoffnung übers grüne Feld; 
ein wundersames Zukunftsträumen 
fließt wie ein Segen durch die Welt. 
2. So wirf nun ab, was mit Beschwerden, 
o Seele, dich gefesselt hielt! 
Du sollst noch wie der Vogel werden, 
der mit der Schwing' im Blauen spielt. 
Der aus den kahlen Dornenhecken 
die roten Rosen blühend schafft, 
er kann und will auch dich erwecken 
aus tiefem Leid zu junger Kraft. 
3. Und sind noch dunkel deine Pfade, 
und drückt dich schwer die eigne Schuld: 
o glaube, größer ist die Gnade, 
und unergründlich ist die Huld! 
Laß nur zu deines Herzens Thoren 
der Pfingsten vollen Segen ein: 
getrost, und du wirst neugeboren 
aus Geist und Feuerflammen sein! 
Geibel. 
15. Der Liebe Dauer. 
p— 
1. O lieb, solang düieben kannst! 
O lieb, solang du lteben magst! 
Die Stunde kommt, die Stunde kommt, 
wo du an Gräbern stehst und klagst! 
2. Und sorge, daß dein Herze glüht 
und Liebe hegt und Liebe trägt, 
solang ihm noch ein ander Herz 
in Liebe warm entgegenschlägt. 
3. Und wer dir seine Brust erschließt, 
o thu ihm, was du kannst, zu lieb! 
und mach ihm jede Stunde froh, 
und mach ihm keine Stunde trüb! 
. Und hüte deine Zunge wohl! 
Bald ist ein böses Wort gesagt; 
o Gottl es war nicht bös gemeint, — 
der andre aber geht und klagt. 
z. O lieb, solang du lieben kannst! 
O lieb, solang du lieben magst! 
Die Stunde kommt, die Stunde kommt, 
wo du an Gräbern stehst und klagst! 
J 
Dann kniest du nieder an der Gruft 
und birgst die Augen trüb und naß, 
sie sehn den andern nimmermehr, — 
ins lange feuchte Kirchhofgras; 
Und sprichst: „O schau auf mich herab, 
der hier an deinem Grabe weint! 
Vergieb, daß ich gekränkt dich hab'! 
O Gott, es war nicht bös gemeint.“ 
7 
8. 
Er aber sieht und hört dich nicht, 
kommt nicht, daß du ihn froh umfängst; 
der Mund, der oft dich küßte, spricht 
nie wieder: „Ich vergab dir längst!“ 
9. 
Er that's, vergab dir lange schon; 
doch manche heiße Thräne fiel 
um dich und um dein herbes Wort. 
Doch still! er ruht, er ist am Ziel. 
2 
I0. 
O lieb, solang du lieben kannst! 
O lieb, solang du lieben magst! 
Die Stunde kommt, die Stunde kommt, 
wo du an Gräbern stehst und klagst! 
Freiligrath.
	        
Waiting...

Note to user

Dear user,

In response to current developments in the web technology used by the Goobi viewer, the software no longer supports your browser.

Please use one of the following browsers to display this page correctly.

Thank you.