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breitete ihren Duft und erfreute ihm das Auge; zu ihr wendete er sich im
Tode, als der Herr ihn rief. — Ein Jahr ist er nun bei Gott gewesen;
ein Jahr hat die Blume vergessen im Fenster gestanden und ist verdorrt,
sie wurde deshalb beim Umziehen in den Kehricht hinaus auf die Straße
geworfen. Und dies ist die Blume, die arme, vertrocknete Blume, welche
wir mit in unsern Blumenstrauß genommen haben, denn diese Blume hat
mehr Freude gewährt als die reichste Blume im Garten einer Königin."
„Aber woher weißt du das alles?" fragte das Kind, welches der
Engel gen Himmel trug.
„Ich weiß es!" sagte der Engel, „denn ich war selbst der kleine,
kranke Knabe, welcher auf Krücken ging! Meine Blume kenne ich wohl!"
Und das Kind öffnete seine Augen ganz und sah in des Engels herr¬
liches, frohes Antlitz hinein; und in demselben Augenblicke befanden sie
sich in Gottes Himmel, wo Freude und Seligkeit war. Und Gott drückte
das tote Kind an sein Herz, da bekam es Flügel wie der andere Engel
und flog Hand in Hand mit ihm. Und Gott drückte alle Blumen an sein
Herz; aber die arme, verdorrte Feldblume küßte er, und sie erhielt eine
Stimme und sang mit allen Engeln, welche Gott umschwebten: einige nahe,
andere um diese herum in großen Kreisen, immer weiter und weiter, bis
in das Unendliche, aber alle gleich glücklich. Und alle sangen sie, kleine
und große, das gute, gesegnete Kind und die arme Feldblume, welche ver¬
dorrt dagelegen hatte, hingeworfen in den Kehricht, unter dem Unrate des
Umziehtages, in der schmalen, dunkeln Gasse.
104. Abendgebet.
L. A. v. Arnim und CI. Brentano. Des Knaben Wunderhorn. Neu bearb. v. Birlinger und
Crecelius. Wiesbaden und Leipzig. 1876. H. Killinger. Bd. II. 8. 781.
Abends, wenn ich schlafen geh',
vierzehn Engel bei mir steifn:
zwei zu meiner Rechten,
zwei zu meiner Linken,
5 zwei zu meinem Häupten,
zwei zu meinen Füßen,
zwei, die mich decken,
zwei, die mich wecken,
zwei, die mich weisen
10 in das himmlische Paradeischen.