209. Die Linde. 219
und purpurne Blütenpracht breitete sich aus, als ob sie den Bergsteiger
einladen wollten: „Pflücke mich!“
Der „Boschen“, den der letztere zu Tale trägt, ist aber nochmal so
schön, wenn in seiner Mitte das Edelweiß nicht fehlt. Höher oben
als die Alpenrose, auf Triften und schmalen Felsvorsprüngen sproßt diese
gesuchteste Blume der Alpen. Ihre Blätter tragen einen weichen Pelz aus
dichten, weißen Haaren und die Hüllblätter des Blütenkopfes sehen so
wunderbar weich und zart aus, als wären sie aus Holundermark oder
weißem Samt gearbeitet. Das Blümchen erhält durch dieses Haarkleid
ein fremdartiges und zartes Ansehen, das es, wenn man es pflückt und
preßt, jahrelang unverändert bewahrt. Der Alpenbewohner liebt deshalb
sein Edelweiß ebenso sehr wie der Flachländer das Vergißmeinnicht; es
ist ihm ein Sinnbild unvergänglicher Treue.
209. Die Kinde.
Nach E. A. Roßmäßler.
Die majestätische Linde verirrt sich nur selten in Waldungen und kommt
mehr in der Nähe der menschlichen Wohnungen vor. Sie will frei stehen
und sich geltend machen, wozu auch kein Baum so sehr berechtigt ist als sie,
Buche und Eiche ausgenommen. Unter allen Laubbäumen erreicht sie wohl
das höchste Alter. Wir alle kennen eine oder die andere Riesenlinde in der
Nachbarschaft einer Dorfkirche oder im Hofe einer Schloßruine. Ihr meist
nicht sehr hoher, kräftiger Stamm mit fast regelmäßig tiefgefurchter Rinde
teilt sich in einige gewaltige, schier gerade aufstrebende Äste. Diese wölben
sich oben in der blauen Luft zum mächtigen, weit ausgreifenden Schirm⸗
dache, in dessen Gezweig Bienen summen und im Juni eine reiche Ernte
halten. Jedes Blatt ist ein Herz; hundert davon gehen auf jeden der
Dorfbewohner, die alle zusammen ihre alte Linde so sehr lieben und des
Abends in ihrem Schatten von der Ernte plaudern oder die Dorfangelegen—
heiten beraten, während auf dem Dächlein seines Häuschens, das auf langer
Stange noch über den höchsten Wipfel hinausragt, der Star sein Abend—
lied flötet.
Es gibt zweierlei Linden, die großblätterige oder Sommerlinde und die
kleinblätterige oder Winter-, auch Steinlinde. Man pflanzt sie wegen ihres
schönen Aussehens sowie wegen des dichten Schattens, den sie gewähren,
besonders gerne in Alleen und Laubgängen. Das Lindenholz ist weich,
weiß und sehr feinfaserig und daher zu Tischler-, Drechsler- und Schnitz—
arbeiten sehr gesucht. Die daraus gebrannte Kohle wird zur Bereitung des
Schießpulvers verwendet und unter dem Namen Reißkohle zum Zeichnen
gebraucht. Die innere Rinde oder der Bast besteht aus äußerst zähen Fasern
und man behandelt sie daher auf ähnliche Weise wie den Flachs, indem man
sie röstet oder längere Zeit ins Wasser legt. Es werden dann Taue, Matten