Full text: Oldenburger Volksschullesebuch für Oberklassen

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160. Frühlingsglaube. 
1. Die linden Lüfte sind erwacht, 
Sie säuseln und weben Tag und Nacht, 
Sie schaffen an allen Enden. 
O frischer Dufl, v neuen Klang! 
Nun, armes Herze, sei nicht bang'! 
Nun muß sich ales, alles wenden. 
2. Die Welt wird schöner mit jedem Tag 
Man weiß nicht, was noch werden mag, 
Das Blühen will niht eben 
Es blüht das fernste, tiefste Thal; 
Nun, armes Herz vergiß der Qual! 
Nun muß sich alles alles wenden 
Uhland. 
161. Aus Gellerts Leben. 
Su, wie kalt! Müssen einheizen, Herr Professor!“ so sprach zu dem 
Dichter Gellert sein Arzt, ein kleiner dicker Mann. Wollen Sie sich denn 
ganz verderben? Sie müssen wärmer sitzen.“ Gellert lächelte wehmütig. 
„Mein Holz hat die Schwindsucht,“ sagte er, „und mein Geld dazu. Doch, 
Herr Doktor, seien Sie zufrieden; will sorgen, sorgen.“ Der Dokttor bückte 
sich über Gellerts Schreibtisch und sagte fragend: „Ah, ein neues ieb 
Gellert nickte mit verlegenem Gesicht. Der voltor hielt es gegen das mit Eis⸗ 
blumen gezierte Fenster, und als e das Lied gelesen, sprach er „Vortrefflich! 
ein echt christlich Lied. Lieber Herr Professor, das muß ich für meine Frau 
abschreiben. Morgen erhalten Sies wieder.“ — Dann fühlte der Doktor 
Gellerts Puls und sagte: „Immer noch langsam. Das Sitzen ist ein Elend 
für Sie. Sollten einen Gaul haben, sollten reiten! Müssen ein Pferd 
kaufen!“ — „Schon wieder kaufen. Haben Sie nicht noch mehr solche wohl⸗ 
feile Rezepte, Hert Doktor Kommen mir jetzt sehr gelegen,“ erwiderte Gellen 
mit traurigem Lächeln. 
Der Doltor entfernte sich wieder. Gellert verfiel in Nachsinnen: Gestern 
hatte er noch dreißig Thaler, heute nicht mehr; sein Holz langie höchstens noch 
acht Tage; Einnahmen varen nicht zu erwarten. 
Wo waren denn die dreißig Thaler von gestern hingekommen? 
In einer abgelegenen, kleinen Gasse der Stadt Leipzig war ein Häuslein 
das gehörte dem reichen Geizhals Neidhardt. Es war ein miserables Gebäude, 
brachte aber doch noch seine Zinsen. Schon seit Jahren wohnte ein armer, 
gottesfürchtiger Schuhmacher mit Frau und vielen Kindern darin. Die Sorge 
ums tägliche Brot war hier zur Herberge, und es ging ihnen recht kümmer⸗ 
lich. Im Sommer hatten sie sich noch so ziemlich durchgeschlagen; aber jeßt 
war es Winter, Kriegszeit, große Kaäͤlte und der Verdienst kümmerlich, zu⸗ 
dem nahte die Zeit der Hausmiete, die zu dreißig Thaler aufgelaufen war, 
und schon hatte der geizige Neidhardt mit Hinauswerfen gedroht. — Da ging 
die Frau noch einmal zu dem Hartherzigen; aber der kannte kein Erbarmen. 
Kniefällig unter tausend Thränen bat sie um Geduld; sie hätten ja immer 
ehrlich bezahlt. Alles war umfonst. 6 nahte der schreckliche Tag. Der 
Kummer hatte den Ernährer aufs Krankenben geworfen. Kalte Luft drang 
durch en en und sechs unmündige Kinder tanden um ben 
kalten Ofen, frierend, hungernd, weinend. Der Mutter wollte das Herz brechen; 
der Vater aber sprach: „Gott hat gesagt: Rufe mich an in der Not, so will 
ich dich en und du sollst mich preisen Kommt, wir wollen beten.“ Der 
Vater betete inbrünstig gläubig. Und als er Amen gesagt, leuchtete ein Strahl 
frohen Vertrauens ins matte Herz. — Die Mutter aber ging nebst zwei 
Kindern hinaus auf den Zimmerblaß, Späne aufzulesen. Es waͤr ein heller
	        
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