Full text: Oldenburger Volksschullesebuch für Oberklassen

Knabe von 9 Jahren —, als ich eines Morgens auf meinem Schulwege 
darüber nachdachte, wie angenehm es sein würde, wenn ich zu dem Brot, das 
mir die Mutter zum Frühstück mitgegeben, auch einen Apfel hätte; meine 
Kameraden aßen oft so schöne, große Äpfel, und ich bekam nur selten Obst. 
Mit solchen Gedanken beschäftigt kam ich auf den Marktplatz, über den mein 
Weg führte. Da waren viele Körbe voll der auserlesensten Früchte, die mich 
so vecht anlachten. Ich blieb unwillkürlich stehen, um sie zu betrachten. Die 
Eigenlümerin hatte ihrer Ware den Rücken zugekehrt und sprach angelegent⸗ 
lich mit einer Nachbarin. Da kam mir so der Gedanke: Sie wird es kaum 
bemerken, wenn du einen Apfel nimmst; sie behält ja eine große Menge noch. 
Leise streckte ich meine Hand aus und wollte eben ganz vorsichtig meine Beute 
in die Tasche stecken, als ich plötzlich eine derbe Ohrfeige bekam, so daß ich 
vor Schrecken den Apfel fallen ließ. Junge! sagte zugleich eine Stimme, wie 
heißt das siebente Gebot? Nun, ich hoffe, daß es das erste Mal ist, wo du 
deine Hand nach fremdem Gute ausstreckst; laß es zugleich das letzte Mal sein 
— Ich fühlte, daß ich ganz rot vor Scham geworden war, und wagte kaum 
die Augen aufzuschlagen; doch aber sind mir die Züge dieses Mannes ebenso 
unvergeßlich geblieben wie die Begebenheit selbst. — Anfangs war ich in der 
Schule sehr zerstreut; immer tönten in meinen Ohren die Worte wieder, die 
ich gehört hatte. Mein Herz war so voll, ich hätte weinen mögen; am meisten 
aber blieben meine Gedanken bei dem Schlusse stehen: Laß es zugleich das 
letzte Mal sein! Und ich nahm mir fest vor: Ja, es soll gewiß das erste und 
lehte Mal sein! Aber auch lange nachher, wenn wir unsern Katechismus auf⸗ 
sagten und der Lehrer fragte: Wie heißt das siebente Gebot? erinnerte mich 
das heftige Klopfen meines Herzens an jenen Morgen. — As ich nach einigen 
Jahren die Schule verließ, kam ich zu einem Handelsfreunde meines Vaters 
in Bremen aufs Comptoir; von dort ging ich später nach Südamerika. Es 
wird Sie nicht befremden, wenn ich sage, daß die Versuchungen, andere zu 
übervorteilen und so seine Hand nach fremdem Gut auszustrecken für einen 
jungen Kaufmann nicht selten sind. Auch hier blieben solche Versuchungen 
für mich nicht aus; aber sobald mir dergleichen nahe traten, war es mir 
mmer, als fühlte ich von neuem die Ohrfeige, und die Worte: Laß es zu— 
gleich das leßte Mal sein! halfen mir alle derartigen Anträge zurückweisen. Seit 
h Monaten bin ich jetzt wieder in meiner Vaterstadt, und mit innigem Dank 
gegen den Herrn darf ich sagen, daß bei dem nicht unbedeutenden Vermögen, 
welches ich mit herübergebracht habe, gewiß kein Pfennig fremden oder un— 
rechten Guts ist.“ 
Der junge Mann hielt hier einen Augenblick inne denn er war durch 
seine Erzählung ersichtlich selbst sehr bewegt worden; dann aber ergriff er die 
Hand des Herrn Müller und sagte: „Erlauben Sie jetzt, daß ich diese Hand, 
die mir eine solche Wohlthat erwiesen hat, recht dankbar drücken darf!“ — 
Und erlauben Sie mir,“ entgegnete Herr Müller, indem er mit Thränen im 
Auge ihn an sich zog, „daß ich den Mann recht von Herzen lieb haben darf, 
der einer solchen Dankbarkeit fühig ist und der im späteren Leben so treu ge— 
halten, was er als Knabe gelobte.“ Volksbl. f. Stadt und Land. 
75. Klein Roland. 
1. Frau Bertha saß in der Felsenkluft, 
Sie klagt' ihr bittres Los; 
Klein Roland spielt' in freier Luft, 
Des Klage war nicht groß. 
2. O König Karl, mein Bruder hehr, 
O, daß ich floh von dir! 
Um Uiebe ließ ich Pracht und Ehr', 
Nun zürnst du schrecklich mir.
	        
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