Full text: Oldenburger Volksschullesebuch für Oberklassen

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80. Lied vom Samenkorn. 
1. Der Sämann streut aus voller Hand 
Den Samen auf das weiche Land, 
Und, wundersam! was er gesät, 
Das Körnlein wieder aufersteht. 
5. Doch schadet ihm kein Leid noch Weh; 
Der Himmel deckt mit weißem Schnee 
Der Erde Kindlein freundlich zu, 
Dann schlummert es in stiller Ruh'. 
2. Die Erde nimmt es in den Schoß 
Und wickelt es im stillen los; 
Ein zartes Keimlein kommt hervor 
Und hebt sein rötlich Haupt empor. 
6. Bald fleucht des Winters trübe Nacht, 
Die Lerche singt, das Korn erwacht, 
Der Lenz heißt Bäum' und Wiesen blühn 
Und schmückt das Thal mit frischem Grün. 
3. Es steht und frieret nackt und klein 
Und fleht um Tau und Sonnenschein; 
Die Sonne schaut von hoher Bahn 
Der Erde Kindlein freundlich an. 
7. Voll krauser Ahren schlank und schön 
Muß nun die Halmensaat erstehn, 
Und wie ein grünes, stilles Meer 
Im Winde wogt sie hin und her. 
4. Bald aber nahet Frost und Sturm, 
Und scheu verbirgt sich Mensch und Wurm; 
Das Körnlein kann ihm nicht entgehn 
Und muß in Wind und Wetter slehn. 
8. Dann schaut vom hohen Himmelszelt 
Die Sonne auf das Ahrenfeld; 
Die Erde ruht in stillem Glanz, 
Geschmückt mit goldnem Erntekranz. 
9. Die Ernte naht, die Sichel klingt, 
Die Garbe rauscht, gen Himmel dringt 
Der Freude lauter 
Des Herzens stiller Preis und Dank. 
Krummacher. 
81. Rübezahl, der Geist des Riesengebirges. 
Eines Tages sonnte sich der Geist an der Hecke seines Gartens; da kam 
ein Weibchen ihres Weges daher in großer Unbefangenheit, die durch ihren 
sonderbaren Aufzug seine Aufmerksamkeit auf sich zog. Sie hatte ein Kind an 
der Brust liegen, eines trug sie auf dem Rücken, eines leitete sie an der Hand, 
und ein etwas größerer Knabe trug einen ledigen Korb nebst einem Rechen; 
denn sie wollte eine Last Laub fürs Vieh laden. „Eine Mutter,“ dachte Rübe— 
zahl, „ist doch wahrlich ein gutes Geschöpf! schleppt sich mit vier Kindern und 
wartet dabei ihres Berufs ohne Muxren, wird sich noch mit der Bürde des 
Korbes belasten müssen.“ Diese Betrachtung versetzte ihn in eine gutmütige 
Stimmung, die ihn geneigt machte, sich mit der Frau in Unterredung einzu— 
lassen. Sie setzte ihre Kinder auf den Rasen und streifte Laub von den 
Büschen; indessen wurde den Kleinen die Zeit lang, und sie fingen an heftig 
zu schreien. Alsbald verließ die Mutter ihr Geschäft, spielte und tändelte mit 
den Kindern, nahm sie auf, hüpfte mit ihnen singend und scherzend herum, 
wiegte sie in Schlaf und ging wieder an ihre Arbeit. Bald darauf stachen 
die Mücken die kleinen Schläfer; sie fingen ihren Gesang von neuem an. Die 
Mutter wurde darüber nicht ungeduldig, sie lief ins Holz, pflückte Erdbeeren 
und Himbeeren und legte das kleinste Kind an ihre Brust. Diese mütterliche 
Behandlung gefiel dem Geiste. Allein der Schreier, der vorher auf der Mutter 
Rücken ritt, wollte sich durchaus nicht befriedigen lassen, war ein eigensinniger, 
störriger Junge, der die Erdbeeren, die ihm die liebreiche Mutter darreichte, 
von sich warf und dazu schrie, als wenn er gespießt wäre. Darüber riß ihr 
doch endlich die Geduld aus: „Rübezahl,“ rief sie „komm und friß mir den 
Schreier!“ Augenblicklich versichtbarte sich der Geist in Köhlergestalt, trat zum 
Weibe und sprach: „Hier bin ich, was ist dein Begehr?“ Die Frau geriet 
über diese Erscheinung in großen Schrecken. Weil sie aber ein frisches, herz—
	        
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