Full text: Deutsches Lesebuch für höhere Lehranstalten

Prosa. — Freundschaftliche Briefe. 
Heute vor fünftausend Jahren hatte Zeus die unsterblichen Götter auf dem 
Olympos bewirthet. Als man sich niedersetzte, entstand ein Rangstreit unter den 
drei Töchtern Jupiters. Die Tugend wollte der Liebe vorangehen, die Liebe 
der Tugend nicht weichen, und die Freundschaft behauptete ihren Rang vor 
beiden. Der ganze Himmel kam in Bewegung, und die streitenden Göttinnen 
zogen sich vor den Thron des Saturnus. 
Es gilt nur ein Adel auf dem Olympos, rief Chronos Sohn, und nur 
ein Gesetz wonach man die Götter richtet. Der ist der erste, der die glücklichsten 
Menschen macht. 
Ich habe gewonnen, rief triumphirend die Liebe. Selbst meine Schwe— 
ster, die Tugend, kann ihren Lieblingen keine größexe Belohnung bieten, als 
mich — und ob ich Wonne verbreite, das beantworte Jupiter und alle anwe— 
senden unsterblichen Götter. 
Und wie lange bestehen deine Entzückungen! unterbrach sie ernsthaft die 
Tugend. Wen ich mit der unverwundbaren Aegide beschütze, verlacht selbst 
das furchtbare Fatum, dem auch sogar die Unsterblichen huldigen. Wenn du 
mit dem Beispiel der Götter prahlst, so kann ich es auch — der Sohn des 
Saturnus ist sterblich, sobald er nicht tugendhaft ist. 
Die Freundschaft stand von ferne und schwieg. 
Und du, kein Wort, meine Tochter? rief Jupiter. Was wirst du deinen 
Lieblingen Großes bieten? 
Nichts von dem allen, antwortete die Göttin, und wischte verstohlen eine 
Thräne bon der erröthenden Wange. Mich lassen sie stehen, wenn sie glücklich 
sind, aber sie suchen mich auf, wenn sie leiden. 
Versöhnet euch, meine Kinder! sprach jetzt der Göttervater. Euer Streit 
war der schönste, den Zeus je geschlichtet hat, aber keine hat ihn verloren. 
Meine männliche Tochter, die Tugend, wird ihre Schwester Liebe Stand— 
haftigkeit lehren und die Liebe keinen Günstling beglücken, den die Tugend ihr 
nicht zugeführt hat. Aber zwischen euch beide trele die Freundschaft und 
hafte mir für die Ewigkeit dieses Bundes! 
b. Beileidschreiben. 
7. M. Luther an seinen kranken Vater. 
Meinem lieben Vater Hans Luther, Bürger zu Mansfeld im Thal, 
Gnade und Friede in Christo Jesu, unserm Herrn und Heiland. 
Amen. 
Lieber Vater! Es hat mir Jakob, mein Bruder, gemeldet, wie daß ihr fährlich 
krank sein sollt. Weil denn jetzt böse Luft und sonst allenthalben Fahr ist, auch 
der Zeit halben, bin ich beweget, für euch zu sorgen. Denn wiewohl euch Gott 
bis r einen festen, harten Leib gegeben und erhalten, machet mir doch 
euer Alier zu diesen Zeiten sorgliche Gedanken; wir alle ohne das 
keine Stunde unseres Lebens sicher sind, noch sein sollen; derhalben ich aus der 
Maßen gern wäre selbst zu euch gekommen leiblich; so haben mir's doch meine 
guten Freunde widerrathen und ausgeredet, und ich auch selbst denken muß, 
daß ich nicht auf Gottes Versuchen in die Fahr mich wagte; denn ihr wisset, 
wie mir Herren und Bauern günstig sind. 
Aber große Freude sollte mir's sein, wo es möglich wre daß ihr euch 
ließet sammt der Mutter hieher führen zu uns, welches meine Kuülhe mit Thränen
	        
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