Full text: Deutsches Lesebuch für höhere Lehranstalten

306 Prosa. — Politische Rede. 
unter die Botmäßigkeit einer besonnenen Kunst gebracht werden, die an allem 
ohne Ausnahme, was ihr anvertraut wird, ihren Zweck sicher erreiche oder, wo⸗ 
sie ihn etwa nicht erreichte, wenigstens weiß, daß sie ihn nicht erreicht hat, und 
daß somit die Erziehung noch nicht geschlossen ist. Eine sichere und besonnene 
Kunst, einen festen und unfehlbaren guten Willen im Menschen zu bilden soll 
also die von mir vorgeschlagene Etziehung sein, und dieses ist ihr erstes 
Merkmal. 
Walter — der Mensch kann nur dasjenige wollen, was er liebt; seine 
Liebe ist der einzige, zugleich auch der unfehlbare Antrieb seines Willens und 
aller seiner Lebensregung und Bewegung. Die bisherige Staatskunst, als selbst 
Erʒiehung des gesellschaftlichen Menschen, setzte als sichere und ohne Ausnahme 
ende Regel vorxaus daß jedermann sein eigenes sinnliches Wohlsein liebe und 
Delle, und sie knüpfte an diese natürliche Liebe durch Furcht und Hoffnung 
fünstlich den guten Willen, den sie wollte das Interesse für das gemeine Wesen. 
Abgerechnet, daß bei dieser Erziehungsweise der äußerlich zum unschädlichen oder 
uchbaren Burger gewordene dennoch innerlich ein schlechter Mensch bleibt, 
denn darin eben besteht die Schlechtigkeit, daß man nur sein sinnliches Wohl⸗ 
sein liebe und nur durch Furcht oder Hoffnung für dieses, sei es im gegen⸗ 
wärtigen oder in einem künftigen Leben, bewegt werden könne; — dieses abge 
rechnet, haben wir schon oben ersehen, daß diese Maßregel für uns nicht mehr 
ambendbar ist, indem Furcht und Hoffnung nicht mehr für uns, sondern gegen 
Ing dienen, und die sinnliche Selbstliebe auf keine Weise in unsern Vortheil 
gezogen werden kann. Wir sind daher sogar durch die Noth gedrungen, innen⸗ 
lch und im Grunde gute Menschen bilden zu wollen, indem nur in solchen die 
deutsche Nation noch sortdauern kann, durch schlechte aber nothwendig mit dem 
Auslande zusammenfließt. Wir müssen darum an die Stelle jener Selbstliebe, 
belche nichis Gutes für uns sich länger knüpfen läßt, eine andere Liebe, die 
Unmiltebar auf das Gute, schlechtweg als solches, und um sein selbst willen 
gehe, in den Gemüthern aller, die wir zu unsrer Nation rechnen wollen, setzen 
und begründen. 
Die Liebe für das Gute schlechtweg als solches und nicht etwa um seiner 
Nützlichteit villen für uns selber trägt, wie wir schon ersehen haben, die Ge⸗ 
flali des Wohlgefallens an demselben, nes so innigen Wohlgefallens, daß man 
dadurch getrieben werde, es in seinem Leben darzustellen. Dieses innige Wohl⸗ 
gefallen also wäre es, was die neue Erziehung als festes und unwandelbares 
Sein ihres Zöglings hervorbringen müßte; worauf denn dieses Wohlgefallen 
durch sich selbsi den unwandelbar guten Willen desselben Zoglings als noth⸗ 
wendig begründen würde. 
Dagegen gieng der bisherige Unterricht in der Regel nur auf die stehen⸗ 
den Beschaffenheiten der Dinge, wie sie eben, ohne daß man einen Grund dafür 
angeben könne, seien und geglaubt und gemerkt werden müßten; also auf ein 
bloß leidendes Auffassen durch das lediglich im Dienste der Dinge stehende 
Vermögen des Gedächtnisses, wodurch es überhaupt gar nicht zur Ahnung des 
Geistes, als eines selbständigen und uranfänglichen Princips der Dinge selben 
nen bonnte. Es vermeine die neuere Paädagogik ja nicht, durch die Be— 
rufung auf ihren oft bezeugten Abscheu gegen mechanisches Auswendiglernen und 
auf ihre bekannten Meisterstücke in sokratischer Manier gegen diesen Vorwurf 
sich zu decken; denn hierauf hat sie schon längst wo anders den gründlichen 
Üscheid erhalten, daß diese sokratischen Räsonnements gleichfalls nur mechanisch 
quswendig gelernt werden, und daß dies ein um so gefährlicheres Auswendig—
	        
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