124
32. Das blinde Roß.
Vor langen, langen Jahren lebte in der alten Stadt Vineta ein reicher
Kaufmann, der mehrere Schiffe zur See hatte und viele Waren kaufte und
verkaufte. Alles in seinem Hause sah prächtig aus. Die Wände waren
mit Tapeten beklebt, die Fußböden mit Teppichen belegt, und Herr und
Frau gingen in lauter Samt und Seide. Im Stalle standen vier Füchse
für die Kutsche und ein Schimmel zum Reiten. Dieser Schimmel war das
schnellste Pferd in ganz Vineta, und Usedom (so hieß der Kaufmann)
nannte ihn nur seinen lieben „Spring-in-den-Wind“. Eines Tages ritt
Usedom in einen Wald, um zu sehen, ob seine Waren noch nicht ankämen,
die er erwartete. Plötzlich sprangen sechs Räuber auf ihn zu, und hätte
nicht der Schimmel durch seine Blitzesschnelle den Herrn gerettet, nimmer
würde er Vineta wiedergesehen haben; denn der eine Räuber hatte schon
den Zaum des Pferdes ergriffen, und der andere hielt eine große Stange
vor, über die aber der Schimmel wegsetzte.
Über und über war derselbe mit Schaum bedeckt, als er seinen Herrn
nach Vineta zurück brachte, und dieser nahm sich vor, ihn nie zu verkaufen
und ihn nie zu verstoßen, sondern ihm täglich drei große Metzen Hafer zu
geben, bis er sterbe. Doch allmählich vergaß es Usedom, daß er dem
Schimmel sein Leben verdanke, und gab ihm nur noch zwei kleine Metzen
Hafer. Der Schimmel hatte sich nämlich an dem erwähnten Tage zu sehr
erhitzt, ward steif, lahm und endlich auch blind. Sein Herr mochte nun
nicht mehr auf ihm reiten und kaufte sich ein anderes Pferd. Weil aber
der Schimmel noch gar nicht alt war, so lebte er noch viele Jahre nach
jenem Ritte. Da gab ihm der Herr zuletzt nur eine Metze Hafer des
Tages, und da ihm auch dieses zu viel schien und kein Mensch etwas für
den Schimmel geben mochte, befahl er seinem Knechte, den Schimmel weg—
zujagen. Der nahm einen Prügel, weil das Pferd nicht weichen wollte,
und trieb es aus dem Stalle. Da blieb es sieben Stunden am Thore
stehen mit niedergebeugtem Kopfe und spitzte die Ohren, wenn etwas im
Hause sich regte. Die Nacht schlief es daselbst auf den harten Steinen,
während es kalt war und schneite. Endlich trieb der Hunger das Tier
wegzugehen; aber weil es blind war, so stieß es überall an. Mit seiner
Nase roch es links und rechts, ob nicht wo ein Hälmchen Stroh läge; doch
fand es nur wenig.
Es war aber in selbiger Stadt ein Glockenhaus, das stand Nacht und
Tag offen. Man hatte es gebaut, um Unrecht zu verhindern. Denn wenn
jemand meinte, ihm geschehe Unrecht von einem andern, so ging er ins
Glockenhaus, faßte an den Glockenstrick und läutete. Sogleich kamen die
Richter der Stadt zusammen und richteten. Zufällig tappte auch der Schimmel
in dieses Glockenhaus hinein, und da er mit seinen Lippen alles berührte
und aus Hunger mit den Zähnen alles benagte, so fand er auch den Strick,
faßte ihn mit den Zähnen und fing an zu läuten. Plötzlich kamen die
Richter und sahen den Schimmel als Kläger. Da sie wohl wußten, wie
große Dienste der Schimmel seinem Herrn gethan hatte, so ging ihnen die
Sache zu Herzen. Sie ließen Usedom sogleich herbeirufen, der sich nicht
wenig wunderte, als er seinen Schimmel an der Klageglocke sah. Er wollte