Full text: Für Oberklassen (Teil 2, [Schülerband])

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32. Das blinde Roß. 
Vor langen, langen Jahren lebte in der alten Stadt Vineta ein reicher 
Kaufmann, der mehrere Schiffe zur See hatte und viele Waren kaufte und 
verkaufte. Alles in seinem Hause sah prächtig aus. Die Wände waren 
mit Tapeten beklebt, die Fußböden mit Teppichen belegt, und Herr und 
Frau gingen in lauter Samt und Seide. Im Stalle standen vier Füchse 
für die Kutsche und ein Schimmel zum Reiten. Dieser Schimmel war das 
schnellste Pferd in ganz Vineta, und Usedom (so hieß der Kaufmann) 
nannte ihn nur seinen lieben „Spring-in-den-Wind“. Eines Tages ritt 
Usedom in einen Wald, um zu sehen, ob seine Waren noch nicht ankämen, 
die er erwartete. Plötzlich sprangen sechs Räuber auf ihn zu, und hätte 
nicht der Schimmel durch seine Blitzesschnelle den Herrn gerettet, nimmer 
würde er Vineta wiedergesehen haben; denn der eine Räuber hatte schon 
den Zaum des Pferdes ergriffen, und der andere hielt eine große Stange 
vor, über die aber der Schimmel wegsetzte. 
Über und über war derselbe mit Schaum bedeckt, als er seinen Herrn 
nach Vineta zurück brachte, und dieser nahm sich vor, ihn nie zu verkaufen 
und ihn nie zu verstoßen, sondern ihm täglich drei große Metzen Hafer zu 
geben, bis er sterbe. Doch allmählich vergaß es Usedom, daß er dem 
Schimmel sein Leben verdanke, und gab ihm nur noch zwei kleine Metzen 
Hafer. Der Schimmel hatte sich nämlich an dem erwähnten Tage zu sehr 
erhitzt, ward steif, lahm und endlich auch blind. Sein Herr mochte nun 
nicht mehr auf ihm reiten und kaufte sich ein anderes Pferd. Weil aber 
der Schimmel noch gar nicht alt war, so lebte er noch viele Jahre nach 
jenem Ritte. Da gab ihm der Herr zuletzt nur eine Metze Hafer des 
Tages, und da ihm auch dieses zu viel schien und kein Mensch etwas für 
den Schimmel geben mochte, befahl er seinem Knechte, den Schimmel weg— 
zujagen. Der nahm einen Prügel, weil das Pferd nicht weichen wollte, 
und trieb es aus dem Stalle. Da blieb es sieben Stunden am Thore 
stehen mit niedergebeugtem Kopfe und spitzte die Ohren, wenn etwas im 
Hause sich regte. Die Nacht schlief es daselbst auf den harten Steinen, 
während es kalt war und schneite. Endlich trieb der Hunger das Tier 
wegzugehen; aber weil es blind war, so stieß es überall an. Mit seiner 
Nase roch es links und rechts, ob nicht wo ein Hälmchen Stroh läge; doch 
fand es nur wenig. 
Es war aber in selbiger Stadt ein Glockenhaus, das stand Nacht und 
Tag offen. Man hatte es gebaut, um Unrecht zu verhindern. Denn wenn 
jemand meinte, ihm geschehe Unrecht von einem andern, so ging er ins 
Glockenhaus, faßte an den Glockenstrick und läutete. Sogleich kamen die 
Richter der Stadt zusammen und richteten. Zufällig tappte auch der Schimmel 
in dieses Glockenhaus hinein, und da er mit seinen Lippen alles berührte 
und aus Hunger mit den Zähnen alles benagte, so fand er auch den Strick, 
faßte ihn mit den Zähnen und fing an zu läuten. Plötzlich kamen die 
Richter und sahen den Schimmel als Kläger. Da sie wohl wußten, wie 
große Dienste der Schimmel seinem Herrn gethan hatte, so ging ihnen die 
Sache zu Herzen. Sie ließen Usedom sogleich herbeirufen, der sich nicht 
wenig wunderte, als er seinen Schimmel an der Klageglocke sah. Er wollte
	        
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