Full text: Augsburger Lesebuch für die sechste Volksschulklasse

17. Vom Urgroßvater, der auf der Tanne saß. 
„Wie's weiter gewesen?“ fuhr er fort. „Ja, nun brach es 
erst los; das war Donnerschlag auf Donnerschlag und beim 
Leuchten war zu sehen, wie hundert und tausend Eiskörner auf 
den Wald niedersausten, an die Stämme prallten, auf den Boden 
flogen und wieder hoch emporsprangen. So oft ein Hagelkorn 
an den Stamm der Tanne schlug, gab es im ganzen Baume einen 
hohlen Schall. Plötzlich war eine blendende Glut, ein Schmet⸗ 
tern und es loderte eine Fichte. 
Und die Türkentanne stand da und dein Urgroßvater saß 
unter der Krone im Astwerk. 
Die brennende Fichte warf weithin ihren Schein und nun 
war zu sehen, wie ein rötlicher Schleier lag über dem Walde, 
wie nach und nach das Gewebe der kreuzenden Eisstücke dünner 
und dünner wurde und wie viele Wipfel keine Äste, dafür aber 
weiße Streifen hatten, wie endlich der Sturm in einen mäßigen 
Wind überging und ein dichter Regen rieselte. 
Die Donner wurden seltener und dumpfer und zogen sich 
gegen Mittag und Morgen; aber die Blitze leuchteten noch un— 
unterbrochen. 
Am Fuße des Baumes war kein Heulen und kein Augen— 
funkeln mehr. Die Raubtiere waren durch das wilde Wetter 
verscheucht worden. Da stieg denn dein Urgroßvater wieder 
von Ast zu Ast bis zum Boden. Und er ging heraus durch den 
Wald über die Felder gegen das Haus. 
Es war schon nach Mitternacht. Es war an demselben 
Morgen ein frischer Harzduft gewesen im Walde; die Bäume 
haben geblutet aus unzähligen Wunden. Und es war ein bde— 
schwerliches Gehen gewesen über die Eiskörner und es war eine 
sehr kalte Luft. 
Als sie darauf am andern Tag alle über die Verheerung 
und Zerstörung hin zur Kirche gingen, fanden sie im Walde 
unter dem herabgeschlagenen Reifig und Moos manchen toten 
Vogel und manch anderes Tier; unter einem geknickten Wipfel 
lag ein toter Wolf. 
Dein Urgroßvater ist bei diesem Gange sehr ernst gewesen; 
da sagt auf einmal das Lenerl von der Waldhütte zu ihm: „O 
du himmlisch Mirakel! Sepp, dir wachst ja schon ein graues 
Haar!“ 
Später hat er alles erzählt und nun nannten die Leute 
den Baum, auf dem er dieselbige Nacht hat zubringen müssen, 
die „Graue Tanne“. 
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