Full text: Augsburger Lesebuch für die sechste Volksschulklasse

52. Auf der großen Brücke in Konstantinopel. 2 
Sänfte, aus der eine Armenierin hervorguckt. Zu beiden Seiten 
gehen Beduinen, in weiße Mäntel gehüllt, und ein bejahrter 
Türke im himmelblauen Kaftan, das Haupt von einem weißen 
Turban bedeckt. Neben ihm reitet ein junger Grieche, den sein 
Dolmetscher in reichgestickter Jacke begleitet, und ein Derwisch 
mit großem, spitzem Hut, in dem Gewande von Kamelshaaren 
drückt sich auf die Seite um den Wagen eines europäischen Ge— 
sandten und dessen Vorreiter vorbeizulassen. Alles zieht an 
den Augen vorbei, ohne daß man recht die Blicke darauf ruhen 
lassen könnte. Ehe wir uns rückwärts wenden, sind wir schon 
wieder von einer Schar Perser umgeben, deren zuckerhutförmige 
Pelzkappen wir anstaunen, und wenn sie vorüber sind, so sehen 
wir Juden in langem, gelbem, an den Seiten offenem Gewande, 
eine rauhhaarige Zigeunerin, die ihr Kind in einem Sack auf 
dem Rücken trägt, einen katholischen Priester mit Gebetbuch 
und Stab. 
Alle diese so verschiedenen Menschen begegnen sich oder 
gehen aneinander vorüber ohne sich gegenseitig anzusehen; nie— 
mand steht still, alle drängen eilig weiter. Der Albanese im 
weißen Unterkleide, die Pistolen im Gürtel, geht an der Seite 
des Tataren, der sich in sein Schaffell wickelt; der vornehme 
Türke reitet neben buntgeschmückten Eseln zwischen zwei Reihen 
Kamelen; hinter dem hoch auf einem arabischen Renner thro— 
nenden Adjutanten eines Fürsten schwankt ein Lastwagen, mit 
dem Baustoff eines türkischen Hauses beladen. Die Türkin zu 
Fuß, die verschleierte Sklavin, die Griechin im roten Barett 
und die Jüdin in dem alten Gewande Judäas befinden sich 
oft in einer einzigen Reihe; aber das Bild fügt sich mit einer 
Geschwindigkeit zusammen and löst sich in demselben Augen— 
blicke wieder auf, so daß die Augen kaum folgen können. 
Ganz besonders interessant ist es den Blick auf den Boden 
der Brücke zu richten, auf nichts als auf die Füße zu sehen. 
Alles Schuhzeug der ganzen Erde geht vorüber: die gelben Pan— 
toffel der Türken, die roten der Armenier, die blauen der 
Griechen, die schwarzen der Israeliten — Sandalen, Gama— 
schen, Schuhe in tausend Farben, goldgestickte Pantoffel, Stiefel 
von Atlas, von Stricken, von Lumpen, von Holz folgen sich 
so dicht gedrängt, daß, wenn man auf das eine Paar blickt, 
sich schon hundert andere dazwischenstellen. 
Man muß vorsichtig sein um nicht bei jedem Schritt um— 
gestoßen zu werden. Da ist ein Lastträger mit einem ungeheuren 
Schlauch auf dem Rücken, hier eine russische Dame, dort ein 
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