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74. Pippin Her Kleine (761—768).
I. Buschmann, nach des Verfassers Deutschen Sagen und Geschichten aus dem Mittelalter,
Paderborn (Schöningh)*, >892, S. 150.
Pippin, der Sohn Karl Martels, hatte an Stelle des letzten
Merowingers*) Childerich den Thron der Franken eingenommen.
Er war klein von Gestalt, aber stark an Leibeskräften und klugen
Geistes. Da er nun hörte, daß die Heerführer wegen seiner Klein¬
heit mit Geringschätzung von ihm zu sprechen pflegten, befahl er
einen Stier von furchtbarer Größe und unbezähmbarer Wildheit
vorzuführen und einen grimmigen Löwen auf ihn loszulassen.
Dieser stürzte mit gewaltigem Ungestüm aus den Stier los, ergriff
ihn am Nacken und warf ihn zu Boden. Da sagte der König zu
den Umstehenden: „Reißt den Löwen vom Stiere oder tötet ihn
auf diesem!" Sie sahen sich untereinander an; ihr Blut erstarrte
in den Adern, und entsetzt vermochten sie kaum die Worte hervor¬
zubringen: „Herr, kein Mensch ist auf der Erde, der das zu unter¬
nehmen wagte." Er aber, mit mehr Zuversicht erfüllt, erhob sich
von seinem Thron, zog das Schwert und trennte mit einem Hiebe
den Kopf des Löwen von den Schultern und wiederum mit einem
Hiebe den Kopf des Stieres. Dann blickte er finster die Ver¬
sammelten an und sprach: „Scheint es euch jetzt wohl so, als könne
ich euer Herr sein? Habt ihr nicht gehört, was der kleine David
mit jenem Riesen Goliath getan?" Da fielen sie wie vom Donner
getroffen zu Boden und sprachen: „Wem anders als einem Wahn¬
sinnigen könnte es einfallen, Eure Herrschaft über die Sterblichen
zu bestreiten?" Und in Zukunft wagte niemand wieder über den
Frankenkönig zu spotten.
75. Karl der Oro6e (768-814) und die Sachsenkriege.
Nach Th. B. Weiter, a. a. 0., S. 58—67.
1. Auf Pippin folgte sein noch größerer Sohn Karl.
Anfänglich regierte er mit seinem Bruder Karlmann gemein¬
schaftlich; als dieser aber schon nach drei Jahren starb, trat
er an die Spitze des ganzen Reiches, das sich von Bayern
bis an die Alpen und Pyrenäen erstreckte. Unter ihm er¬
reichte das durch die Taten seiner Ahnherren verherrlichte
Frankenreich die höchste Blüte. Durch die Gewalt der Waffen
war es gegründet worden, nur durch sie konnte es auch
erhalten und erweitert werden. Denn ringsumher war es
') Merowinger: das älteste Königsgeschlecht der Franken.