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Auf der sonnigen Höhe des reichsten Glückes wurde der Kronprinz im
Anfange des Jahres 1887 von einer andauernden Heiserkeit befallen, der
Vorbotin eines schweren Leidens, welchem der bis dahin mit der kräftigsten
Gesundheit ausgestattete hohe Herr in wenig über Jahresfrist erliegen sollte.
Das anfänglich namentlich von ihm selbst gering geschätzte Übel widerstand dem
Gebrauche der Heilquellen von Ems. Um Pfingsten 1887 drangen die ersten
beunruhigenden Nachrichten in die Offentlichkeit, daß es sich um ein höchst
gefährliches Kehlkopfleiden handelte. Noch reiste er zu den Feierlichkeiten des
fünfzigjährigen Regierungs-Jubelfestes der Königin von England, eine Sieg—
friedsgestalt, stattlich wie wenig andere; — nur im Zustande tiefsten, hoff—
nungslosen Leidens sollte er das Vaterland wiedersehen. Längeres Verweilen
in Schottland und in Tirol erwies sich als ebenso wenig heilbringend, wie
ein monatelanger Aufenthalt in San Remo am Mittelmeere. Schwer empfand
der greise Valer, besonders während seiner letzten Krankheit, die Trennung
von dem einzigen Sohne. Voller Teilnahme und Sorge waren die Blicke
von ganz Deutschland, ja die der ganzen Welt auf den Verlauf des Leidens
gerichtet. Da kam die schwere Erkrankung und das Hinscheiden Kaiser Wil—
helms am 9. März 1888. Sogleich trat Kaiser Friedrich die Heimreise an.
Mit echt hohenzollernschem Pflichtgefühl raffte er sich auf und traf durch
Schnee und Sturm am späten Abend des 11. März in Charlottenburg ein, 20
ein todkranker Mann und schon längst nicht mehr im Besihß seiner Stumme.
Nicht einmal an seines Vaters Sarg zu eilen konnte ihm bei dem rauhen
Wetter vergönnt werden. Mit aller Kraft der Seele hielt er sich aufrecht.
„Lerne leiden, ohne zu klagen“, dieses Wort richtete er schriftlich an
seinen Sohn. Aber nur 99 Tage sollte er noch leben und regieren. Mit
dem Eintritt wärmeren Frühlingewetters siedelte er aus dem Schlosse zu
Charlottenburg nach dem Neuen Palais über, wo seine Wiege gestanden
hatte. Dort ist er am 15. Juni nach namenlosen Leiden sanft hinüberge⸗
gemgen in jene Welt, in welcher es für die Kinder Gottes kein Leid mehr giebt.
„Der Tugenden, die ihn schmückten“ — so sagte sein Sohn, Wil—
helm II. in seinem Aufrufe „An mein Volk“ — „der Stege, die er auf
den Schlachtfeldern einst errungen hat, wird dankbar gedacht werden,
so lange deutsche Herzen schlagen, und unvergänglicher Ruhm
wird seine ritterliche Gestalt in der Geschichte des Vaterlandes
verklären.“
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283. An mein Volk.
(Kaiser Wilhelm 1UI.)
Gottes Ratschluß hat über uns aufs neue die schmerzlichste Trauer ver—
hängt. Nachdem die Gruft über der sterblichen Hülle Meines unvergeßlichen
Herrn Großvaters sich kaum geschlossen hat, ist auch Meines heißgelieblen 40
Herrn Vaters Majestät aus dieser Zeitlichkeit zum ewigen Frieden abgerufen
worden. Die heldenmütige, aus christlicher Ergebung erwachsende Thatkraft,
mit der Er Seinen Königlichen Pflichten ungeachtet Seines Leidens gerecht
zu werden wußte, schien der Hoffnung Raum zu geben, daß er dem Vater—
lande noch länger erhalten bleiben werde. Gott hat es anders beschlossen. 45
Dem Königlichen Dulder, dessen Herz für alles Große und Schöne schlug, find
Gabriel u. Supprian, Lesebuch. I. 26