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329. August Hermann Francke.
Fliegende Blätter aus dem Rauhen Hause.
1. August Hermann Francke wurde 1663 zu Lübeck geboren und
nach des Vaters frühem Tode von seiner frommen Mutter echt christlich
erzogen. Er studierte zu Erfurt und Kiel und wurde in Leipzig Magister,
wo er mit zwei gleichgesinnten Lehrern biblische Vorlesungen hielt. Als
sie ihm untersagt wurden, erhielt er einen Ruf als Prediger nach Erfurt.
Auch hier wirkte er für Verbreitung eines lebendigen, tätigen Christentums
durch seine Predigten, durch Privatandacht und durch Verteilung von
Bibeln und Erbauungsbüchern; doch er fand auch zahlreiche Feinde und
wurde 1692 aus Erfurt vertrieben. In dieser Zeit erhielt er auf Speners
Rat vom Kurfürsten von Brandenburg den Ruf als Professor der Uni—
versität Halle und zugleich als Prediger in Glauchau. An einem be—
stimmten Wochentage kamen die Armen zu Francke, um sich milde Gaben
zu holen. Bei dieser Gelegenheit nahm er sie mehrmals mit ins Haus
und unterredete sich mit ihnen über den Katechismus; aber er fand bei
allen, namentlich bei den Kindern, eine grenzenlose Unwissenheit. In
seiner Wohnung hatte Francke eine Geldbüchse für die Armen aufgestellt.
Über derselben standen die Worte: ‚Wenn jemand dieser Welt Güter
hat und siehet seinen Bruder darben, wie bleibt die Liebe
Gottes bei ihm!“ Unter der Büchse aber waren die Worte zu lesen:
„Ein jeglicher nach Willkür, nicht mit Unwillen oder aus
Zwang, denn einen fröhlichen Geber hat Gott lieb.“ Eines
Tages legte jemand auf einmal 7 Gulden in die Büchse. Voller Freude
sprach Francke: „Das ist ein ehrlich Kapital, davon muß man etwas
Rechtes stiften; ich will eine Armenschule damit anfangen.“ Er kaufte
etliche Bücher und nahm einen armen Studenten an, der die Kinder
täglich zwei Stunden unterrichten sollte. Die Bettelkinder nahmen die
Buͤcher mit herzlicher Freude, aber — sie kamen nicht wieder. Francke
ließ sich jedoch durch den ersten mißlungenen Versuch nicht abschrecken;
er kaufte neue Bücher und ließ die Kinder in seinem Hause unterrichten
Die Zahl der Kinder mehrte sich schnell. Da aber Francke sah, daß
außerhalb der Schule viel wieder an den Kindern verdorben wurde, so
kam ihm der Gedanke, die Kinder ganz und gar in Kost und Pflege zu
nehmen, und dies war die erste Veranlassung zu dem Waisenhause,
das er erbaute. Als er's anfing, hatte er nicht das geringste Geld in
Händen; aber er hatte ein großes Gottvertrauen im Herzen und die feste
Zuversicht, daß Gott weiter helfen werde. Und diese Hoffnung hat ihn
nicht betrogen.
2. Er wollte mit dem Waisenhause klein anfangen, zuerst nur mit
einer Waise, weil es ihm an Geld fehlte; aber es wurden ihm in kurzer
Zeit neun angemeldet, und er nahm sie alle an. Nun hatte er zwar ein
kleines Kapital empfangen, von dessen Zinsen er arme Kinder erziehen