Full text: Deutsches Lesebuch für die Oberstufe mehrklassiger Schulen

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je mehr das täuschende Kleinbild unendlicher Waldgünge liefern. Und 
tiefe Stille herrscht in diesen Hallen. Das seltsame Geräusch, welches, 
gleich dem Herabträufeln des Regens auf ein Schindeldach, bisher das un¬ 
unterbrochene Nahrungsgeschäft begleitete, hat aufgehört. Die Raupe ist 
gesättigt. Bedächtig klimmt sie überall die Zweige hinan, prüft, mißt, 
wählt, bis die geeignetste Stelle der Rast gefunden ist. Nun spannt sie 
die Seile aus, die das zierlich gewebte Haus tragen sollen; dann krümmt 
sie sich zusammen und beginnt die Hauptarbeit. Aus den beiden am 
Munde gelegenen Spinnwarzen läßt sie zwei Tröpfchen unscheinbaren Saftes 
heraustreten, heftet sie an einem Zweige fest, und ohne Aufhören den Kopf 
hin- und herdrehend, zieht sie aus ihnen den unendlichen, glänzenden Faden. 
Die Vordcrfüße gesellen sich hnlfreich hinzu, indem sic den Doppelfaden zu 
einem einzigen zusammenschlingen; so gestaltet sich alsbald, Windung an 
Windung geklebt, der schleierähnliche Kokon. Noch sieht man die Raupe 
emsig darunter fortarbeiten. Die Nacht bricht herein, und am Morgen ist 
sie schon hinter dichter Hülle verschwunden. Hält man das Ohr nahe hin¬ 
zu, so hört man freilich wohl, daß der emsige Arbeiter nicht ruht; selbst 
noch am dritten Tage macht sich ein leises Knistern vernehmbar; dann aber 
wird's still, und laut- und regungslos hängt der eiförmige Kokon da. Der 
vorhin beschriebene Reisigwald der Seidenzüchterei hat sich seltsam verändert. 
Er ist zu einem Weingarten geworden, an dessen Zweigen, gleich Trauben 
aneinandergedrängt, weiße und gelbe Kokons prangen. 
Aber jetzt erscheinen auch schon die Schnitterinnen dieser Ernte. Die 
Wärterinnen sammeln die Puppen in Körbe und werfen sie dann in heißes 
Wasser. Auf diese Weise wird das innen schlafende Thier getödtct, zugleich 
aber der Leim gelöst, welcher die Windungen des Fadens verbindet. Nun 
sucht man das Ende des Fadens und windet ihn auf einen Haspel. Da 
aber dieser Faden bei einer Länge von vielleicht 310 Meter nicht stärker 
ist, als etwa der 40stc Theil eines Millimeters, so dreht man ihrer 5 bis 
20 zusammen und erhält dadurch den Rohseidenfadcn. 
Die Seidenzucht wurde unter dem griechischen Kaiser Justinian zuerst 
nach Europa verpflanzt. Zwei Mönche brachten die ersten Eier des Seiden- 
wnrms im Jahre 552 glücklich nach Konstantinopel, obwohl Todesstrafe 
auf die Ausführung des Jnsects gesetzt war. In ihren ausgehöhlten Wander¬ 
stäben hatten sic die kostbare Beute verborgen. Nun wurden durch ganz 
Griechenland Manlbcergärten und Seidenfabriken angelegt. Von dort ver¬ 
breitete sich die Seidenzucht allmählich nach Sizilien, Italien, Spanien, 
Portugal. 
Die gesammtc Seidenproduction Europas wird heutzutage auf minde¬ 
stens 12 Millionen Pfund geschätzt. Rechnet man 2000 Kokons auf ein 
Pfund Rohseide, — eine sehr geringe Schätzung — so müssen jährlich 
24000 Millionen Raupen ihre Gespinnste opfern. Und doch ist das nur 
Europa! H. Masius. 
221. Der Thee. 
In China wächst eine der Myrte ähnliche Pflanze — der Thee¬ 
strauch. Überläßt man ihn sich selbst, so erreicht er wohl eine Höhe von 
7—10 in. Gleich von der Wurzel an theilt er sich in viele Äste und 
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