294
je mehr das täuschende Kleinbild unendlicher Waldgünge liefern. Und
tiefe Stille herrscht in diesen Hallen. Das seltsame Geräusch, welches,
gleich dem Herabträufeln des Regens auf ein Schindeldach, bisher das un¬
unterbrochene Nahrungsgeschäft begleitete, hat aufgehört. Die Raupe ist
gesättigt. Bedächtig klimmt sie überall die Zweige hinan, prüft, mißt,
wählt, bis die geeignetste Stelle der Rast gefunden ist. Nun spannt sie
die Seile aus, die das zierlich gewebte Haus tragen sollen; dann krümmt
sie sich zusammen und beginnt die Hauptarbeit. Aus den beiden am
Munde gelegenen Spinnwarzen läßt sie zwei Tröpfchen unscheinbaren Saftes
heraustreten, heftet sie an einem Zweige fest, und ohne Aufhören den Kopf
hin- und herdrehend, zieht sie aus ihnen den unendlichen, glänzenden Faden.
Die Vordcrfüße gesellen sich hnlfreich hinzu, indem sic den Doppelfaden zu
einem einzigen zusammenschlingen; so gestaltet sich alsbald, Windung an
Windung geklebt, der schleierähnliche Kokon. Noch sieht man die Raupe
emsig darunter fortarbeiten. Die Nacht bricht herein, und am Morgen ist
sie schon hinter dichter Hülle verschwunden. Hält man das Ohr nahe hin¬
zu, so hört man freilich wohl, daß der emsige Arbeiter nicht ruht; selbst
noch am dritten Tage macht sich ein leises Knistern vernehmbar; dann aber
wird's still, und laut- und regungslos hängt der eiförmige Kokon da. Der
vorhin beschriebene Reisigwald der Seidenzüchterei hat sich seltsam verändert.
Er ist zu einem Weingarten geworden, an dessen Zweigen, gleich Trauben
aneinandergedrängt, weiße und gelbe Kokons prangen.
Aber jetzt erscheinen auch schon die Schnitterinnen dieser Ernte. Die
Wärterinnen sammeln die Puppen in Körbe und werfen sie dann in heißes
Wasser. Auf diese Weise wird das innen schlafende Thier getödtct, zugleich
aber der Leim gelöst, welcher die Windungen des Fadens verbindet. Nun
sucht man das Ende des Fadens und windet ihn auf einen Haspel. Da
aber dieser Faden bei einer Länge von vielleicht 310 Meter nicht stärker
ist, als etwa der 40stc Theil eines Millimeters, so dreht man ihrer 5 bis
20 zusammen und erhält dadurch den Rohseidenfadcn.
Die Seidenzucht wurde unter dem griechischen Kaiser Justinian zuerst
nach Europa verpflanzt. Zwei Mönche brachten die ersten Eier des Seiden-
wnrms im Jahre 552 glücklich nach Konstantinopel, obwohl Todesstrafe
auf die Ausführung des Jnsects gesetzt war. In ihren ausgehöhlten Wander¬
stäben hatten sic die kostbare Beute verborgen. Nun wurden durch ganz
Griechenland Manlbcergärten und Seidenfabriken angelegt. Von dort ver¬
breitete sich die Seidenzucht allmählich nach Sizilien, Italien, Spanien,
Portugal.
Die gesammtc Seidenproduction Europas wird heutzutage auf minde¬
stens 12 Millionen Pfund geschätzt. Rechnet man 2000 Kokons auf ein
Pfund Rohseide, — eine sehr geringe Schätzung — so müssen jährlich
24000 Millionen Raupen ihre Gespinnste opfern. Und doch ist das nur
Europa! H. Masius.
221. Der Thee.
In China wächst eine der Myrte ähnliche Pflanze — der Thee¬
strauch. Überläßt man ihn sich selbst, so erreicht er wohl eine Höhe von
7—10 in. Gleich von der Wurzel an theilt er sich in viele Äste und
I