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wie Odysseus bei den Sirenen — die Ohren1 mit Wachs verstopfen,
damit er die betäubenden Stimmen der erzürnten Wassergeister
nicht höre. Ja, die reizende Seerose war zu Zeiten so schäd¬
lich, dass wer sie nur in die Hand nahm, sogleich die fallende
Sucht bekam.
Ihrer schönen Gestalt wegen nahm man sie aber gern in die
Wappen auf, so wählten z. B. die Friesen sieben Schwanenblumen-
blätter für ihren Schild und in den Gudrunliedern wird erzählt,
dass Hervic von Seeven eine wolkenblaue Fahne führte, in welcher
Seerosenblätter schwebten.
Aus: »Deutsche Pflanzen sagen“ v. A. v. P erg er.
282. Gruit van Steen.
Das Handelshaus Gruit van Steen war im Beginne des siebzehnten
Jahrhunderts eines der angesehensten, reichsten und festbegründetstcn in
Hamburg. Das Oberhaupt des Hauses war damals Hermann Gruit,
der nach dem Tode des ehrwürdigen Vaters mit der Handlung und dem
Hause auch den alten Jansen als Erbstück mit überkommen hatte, einen
goldtreuen Diener des Hauses, mit Leib und Seele, wie sonst dem alten,
nun dem jungen Herrn zugethan, welchen er schon als Kind auf den Knieen
geschaukelt hatte. Wenige verstanden das Handelswesen damaliger Zeit bis
in seine äußersten Verzweigungen so von Grund aus wie der alte Jansen;
daher galt sein Wort in der Schreibstube wie das des Herrn selbst. Der
dreißigjährige Krieg verheerte schon seit zwanzig Jahren unser armes Vater¬
land durch Raub,- Mord und Brand von einem Ende zum andern; Städte
und Dörfer waren zu hunderten verheert und verlassen von den Bewohnern,
die mit dem Vieh in die Wälder geflohen waren, um sich vor den räuberi¬
schen, blutigen Händen der gottlosen Kriegsleute zu retten. Unter diesen
Umständen und namentlich auch bei der Unsicherheit der Straßen in allen
Ländern war es kein Wunder, daß der Handel stockte, und vorzüglich der
Vertrieb ins Innere von Deutschland gelähmt war. Das fühlte man auch
im Kontor i) des Hermann Gruit, da schon seit längerer Zeit viel seltener
und weniger bepackt die Samnrosse^) und Frachtwagen vor dem Hause
hielten, und drinnen war's oft wochenlang so still wie in einer Kirche,
während es sonst manchen Tag in und vor dem Hause fast so lebhaft hcr-
gieng als auf dem Markte.
Da geschah cs eines Morgens, daß, nachdem der alte Jansen im
Kontor lange den Kopf geschüttelt und dann noch länger gedankenvoll von
seinen Briefen weg hinauf an die braun getäfelte Zimmerdecke so starr ge¬
schaut hatte, als wolle er die Fliegen oben zählen, er sechsmal nach ein¬
ander mit seinem Schwanenkicl in das große silberne Tintenfaß tunkte, die
übervolle Feder gewaltig auf den Tisch stampfte und dadurch den vor ihm
liegenden angefangenen Brief, von oben bis unten mit Tintenflecken mar¬
moriert^), auf einmal fertig machte. Hermann, ihm gegenüber sitzend, fuhr
fast erschrocken vom Sitze auf und sagte: „Ei, Jansen, haben wir denn
i) Geschäftszimmer. 2) Packpferds. ;J) marmorartig gefleckt.
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