Full text: [Teil 2 = Oberstufe, [Schülerband]] (Teil 2 = Oberstufe, [Schülerband])

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94. Der weiße Spatz. 
„.Es war einmal ein Bauer, bei dem ging's von Jahr zu Jahr 
mehr den Krebsgang. Sein Vieh fiel Stück für Stück; seine Äcker trugen 
nicht die Hälfte von dem ein, was sie tragen mußten, und die Ellbogen 
fingen bereits an, durch das Wams zu sehen, während der Gerichts— 
vollzieher fast wöchentlich zum Fenster hineinsah und höflich grüßend 
zu ihm sprach: „Es thut mir leid, Herr Rückwärts, Euch belästigen zu 
müssen; aber ich muß meine Schuldigkeit thun.“ Ihre Schuldigkeit mit 
Bitten und Raten und Helfen hatten auch bereits die Hausfreunde ge— 
10 than; aber einer nach dem andern war endlich mit der Erklärung daheim 
geblieben: „Dem Rückwärts ist nicht mehr zu helfen.“ Da war aber 
einer, der hatte das Herz auf dem rechten Flecke. Wie der mit dem 
Rückwärts einmal hinter dem Glase saß, brachte er wie durch Zufall 
die Rede auf die Spatzen und erzählte von diesem lustigen Völkchen dies 
is oder das, wie gar erstaunlich sie sich mehrten, wie sie schlau und gefräßig 
wären, und der Rückwärts nickte dazu und meinte, seine Weizenäcker 
trügen seit lange nicht mehr so gut, zweifelsohne wären die gefräßigen 
Spatzen daran schuld. Der Hausfreund ließ es dahingestellt und fuhr 
fort: „Aber, Nachbar, habt Ihr denn schon einen weißen Spatz gesehen?“ 
20 „Nein,“ gab der Rückwärts zur Antwort, „die hier herumfliegen, 
sind alle grau.“ 
„Glaub's wohl,“ sagte darauf der Nachbar, „mit dem weißen Spatze 
hat es sein eigenes Bewenden. Alle Jahre kommt nur einer zur Welt, 
und weil er gar absonderlich ist, so beißen ihn die andern, und er muß 
25 sein Futter suchen am frühen Morgen und dann wieder zum Neste gehen.“ 
„Das wäre!“ sagte der Rückwärts, „den muß ich sehen, und ge— 
lingt's, dann fange ich ihn auch.“ 
2. Am nächsten Morgen in aller Frühe war der Bauer auf den 
Beinen und ging um seinen Hof herum, auch ein Stücklein ins Feld 
z0 hinein, ob der weiße Spatz nicht bald vom Neste käme. Der wollte indes 
nicht kommen, und das verdroß den Bauer, aber noch mehr, daß auch 
sein Gesinde nicht aus dem Neste wollte, und doch stand die Sonne schon 
hoch. Dazu schrie das Vieh in den Ställen, und es war niemand da, 
der ihm Futter gab. 
35 Ünterdes sieht er einen Knecht über den Hof schleichen, der einen Sack 
auf der Schulter trägt und schnell zum Hofthore hinaus will. Dem eilt 
er nach und nimmt ihm die Last ab; denn in die Mühle sollte sie nicht, 
sondern ins Wirtshaus, wo der Knecht stark auf der Kreide stand. 
Nach dem weißen Spatze sehend, schaut der Bauer in den Kuhstall 
hinein, wo eben die Milchmagd einer Nachbarin durchs Fenster die Milch 
zum Morgenkaffee reicht, und die Milch war nicht mit des Herrn Maß 
gemessen. Eine saubere Wirtschaft das, denkt der Bauer und weckt
	        
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