Object: Geschichtliches Lesebuch

102 VII. v. Treitschke, Anfänge der Eisenbahnen in Deutschland. 
kündeten sich schon die Anzeichen des beginnenden Massenelends. An 
dem allgemeinen Aufschwünge der Volkswirtschaft nahm auch das 
Kleingewerbe teil. Doch nur die Zahl der Gehilfen wuchs beträchtlich, 
die der Meister wenig; ein selbständiges Geschäft zu behaupten ward 
bei dem verschärften Wettbewerbe immer schwieriger. Die Klein¬ 
gewerbe der Seifensieder, der Gerber, der Töpfer, der Handschuh¬ 
macher gingen schon zurück, weil sie den Kampf mit den großen 
Fabriken nicht aushalten konnten. Die Berliner Stadtverordneten 
klagten, daß die Kosten ihrer Armenverwaltung in den Jahren 1821 
bis 1838 von 104 000 auf fast 374 000 Thlr., weit schneller als die 
Bevölkerung, gestiegen seien. Während die höheren Stände den ärm- 
lichen Gewohnheiten der Kriegsjahre nach und nach entwuchsen, lebte 
der kleine Mann kaum besser denn zuvor; in vielen großen Städten 
nahm die Fleischverzehrung durchschnittlich ab. Das Wachstum der 
Städte verhalf manchem Hausbesitzer plötzlich zum Reichtum, doch die 
Mieten, vornehmlich der kleinen Wohnungen, wurden unerschwinglich. 
Großen Talenten wie Borsig eröffnete die junge Großindustrie eine 
glänzende Laufbahn; der Durchschnitt der Arbeiter aber befand sich 
in hilfloser Lage. Der neue Stand der Fabrikanten, der sich soeben 
erst selbst seine Stellung in der aristokratischen alten Gesellschaft er¬ 
obert hatte, gebrauchte feine Macht noch mit der ganzen Rücksichts¬ 
losigkeit des Emporkömmlings. Es waren die Tage, da die englischen 
Fabrikanten sich in ihren Versammlungen gegen ihre Arbeiter geradezu 
verschworen, einen höchsten Satz für den Arbeitslohn, einen niedersten 
für den Preis der Waren unter einander verabredeten. Die durch 
Ricardo und Say im Geiste der reinen Kapitalsherrschaft weiter¬ 
gebildete Lehre Adam Smiths herrschte noch überall; das Elend der 
Arbeiter galt für ein unwandelbares Naturgesetz, von Pflichten der 
Arbeitgeber war kaum die Rede. 
Auch die Staatsgewalt, die in Preußen so oft schon durch ihre 
zwingende Gerechtigkeit sociale Mißverhältnisse ausgeglichen hatte, 
beachtete diese neuen Zustände noch wenig; denn überall lebt der 
Staat langsamer als die Gesellschaft, er vermag ihren Wandlungen 
nur zu folgen. Was die Regierung durch ihre Schutzzölle, ihre 
technischen Lehranstalten, durch die Darlehen der Bank und der See¬ 
handlung für den Gewerbfleiß that, kam unmittelbar fast allein den 
Unternehmern zu gute. Zumal die Not der Hausindustrie in den 
Hungergebirgen Mitteldeutschlands blieb den Blicken der Behörden 
noch beinah ganz verborgen. Dort war das Elend schon sehr groß,
	        
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