Full text: Deutsches Lesebuch für die Oberklassen der Volksschule

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19. Die Baumannshöhle. 
Die Baumannshoͤhle liegt in einem Kalkberge des Harzes am 
linken Bodeufer. Ungefähr 60 Meter über der Sohle des Thales 
hat die Natur in jenem Berge ein hohes, schönes Felsenthor gewölbt, 
unter welchem man durch eine enge Schneckenwindung hinabschaut in 
die unheimliche Nacht. Felsenstücke hängen herab, Untergang drohend 
dem Haupte dessen, der vorwitzig in die Geheimnisse der Unterwelt 
dringen will. Dennoch ist nicht die geringste Gefahr, die Höhle zu 
befahren, wofern man dem Führer genau folgt, sich nicht von ihm 
entfernt und nicht erhitzt hinabsteigt. 
Die Höhle ist seit Jahrhunderten bekannt. Ein Bergmann, Namens 
Baumann, soll sie zuerst befahren und in ihr nach Erzen gesucht 
haben. Das Labyrinth der unterirdischen Tiefe verwirrte den sonst 
unerschrockenen Bergknappen; er ging in die Kreuz und Quer, stieg in 
die felsigen Abgründe und verlor zuletzt Bahn und Richtung. Ver— 
gebens nach dem Ausgange suchend, erlosch ihm endlich auch das 
spärliche Grubenlicht. Drei Tage lang tappte der Unglückliche in dieser 
gräßlichen Bergnacht umher; zum Tode erschöpft, gelangte er durch 
Zufall wieder an den Ausgang, hatte noch so viel Kraft, auf die 
Wundergebilde der Höhle aufmexksam zu machen, und starb. Mag 
dem kühnen Baumann, der ein Opfer seiner Forschung ward, immer— 
hin die Ehre gegönnt werden, diese berühmte Höhle nach seinem Namen 
getauft zu haben. 
Wohlan, die Grubenlichter sind angezündet, die schwarzen Gruben— 
kittel sind übergezogen; wir fahren hinab. Der flackernde Schimmer 
der dampfenden Grubenlichter macht die herabhängenden, großen Fels— 
stücke in der feuchten Dunkelheit noch grausenhafter. Oft gebückt, mit 
unsicherm Tritte auf schlüpfrigem Boden, oft durch enge Felsspalten 
sich windend, bald steil in die Höhe, bald jah auf dünner Fahrt über 
Abgründe hinunter, hier durch einen weiten, hallenden Dom, dort an 
einem Brunnen vorbei, der kalt und stumm seine Wellen kräuselt, 
überall aber das ewige Tröpfeln des sickernden Wassers, das wie ein 
Geflüster der immer wachen Berggeister klingt, wandert man durch 
sieben Haupthöhlen, von denen die erste mit 10 Meter zur Höhe 
steigt, unter den Trümmern der Zerstörung, neben Abgründen, ein— 
sturzdrohenden Felsen, in den geheimnißvollen, unterirdischen Kammern 
der immer schaffenden Natur. 
Das in diese Tropfsteinhöhle hineinsickernde Wasser hat Kall 
aufgelöst, der sich in der Höhle wieder absetzt und die Gebilde erzeugt, 
welche das Innere in verschiedenen Formen überziehen. Je nässer 
draußen die Witterung, desto mehr tröpfelt drinnen das Wasser. Alles 
ist mit Kalk überzogen. Aus dem verdunsteten Wasser setzt sich eine 
Schicht nach der andern an, und durch fortwährendes Absetzen dieses 
Tropfsteins am Boden und an den Wänden werden immer neue Figuren
	        
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