Full text: Lesebuch für die Oberstufe (Teil 4, [Schülerband])

Zwei Hohenzollernreisen nach Jerusalem. 
1893 wurde der Grundstein gelegt und der Bau begonnen. Im Jahre 
1898 stand das Gotteshaus, das den Namen „Erlöserkirche“ erhielt, 
bollendet da. 
Die feierliche Einweihung derselben ward auf den 31. Oktober des 
zuletzt genannten Jahres festgesezt, und Kaiser Wilhelm II. beschloß, 
mit seiner erlauchten Gemahlin dieser hochbedeutsamen Handlung beizu— 
wohnen. Mit der kaiserlichen Pilgerfahrt nach Jerusalem wurde zugleich 
ein Besuch des Sultans in Konstantinopel in Aussicht genommen. 
Begleitet von einer großen Anzahl geistlicher Würdenträger, hoher 
Staatsbeamter und Offiziere, trat das Kaiserpaar am 12. Oktober die Reise 
an. Diese ging zunächst bis Venedig, von wo ein Geschwader von drei 
deutschen Kriegsschiffen die hohen Reisenden und ihr Gefolge nach Kon— 
stantinopel brachte. 
Der Kaiserbesuch in der wundervollen Stadt am Goldenen Horn 
dauerte vom 18. bis 23. Oktober. Der Sultan Abdul Hamid und 
seine Untertanen wetteiferten, dem Herrscherpaare des mächtigen Deutschen 
Reiches Ehre zu erzeigen und Beweise herzlicher Freundschaft zu geben. 
Von Konstantinopel ging die Kaiserfahrt wiederum zu Schiffe nach der 
Hafenstadt Haifa und von hier auf dem Landwege über Cäsarea und 
Faffa nach Jerusalem. 
Wer die heilige Stadt als schlichter Pilger oder gewöhnlicher Rei— 
sender betritt, mag sich wohl von ihrem Anblick recht enttäuscht fühlen. 
Das heutige Jerusalem trägt den Charakter einer orientalischen Stadt und 
leidet unter den Mängeln aller altehrwürdigen Städte des Morgenlandes 
Die schlecht gepflasterten Straßen sind häufig mit Torbogen überwölbt; 
die steinernen Häuser sind unschön, mit den Fenstern den Höfen zugekehrt, 
daher erscheinen ihre Straßenfronten kahl und tot. Die Stadt zählt 
nach neuerer Schätzung ungefähr sechzig Tausend Seelen und zwar etwa 
10000 Christen, 40000 Israeliten und 10000 Mohammedaner. Die 
deutsche Kolonie in Jerusalem ist in neuerer Zeit außerordentlich auf— 
geblüht und zählte zur Zeit des Kaiserbesuchs über 2000 Seelen, wie 
denn auch an verschiedenen andern Orten Palästinas deutsche Nieder— 
lassungen gegründet worden sind, die trefflich gedeihen. An den Stätten, 
wo Deutsche wohnen, herrscht Ordnung und Sauberkeit. Was Jerusalem 
eine so hohe Weihe vor allen Städten der Welt gibt und sie zum Ziel— 
punkt so vieler Reisen und Pilgerfahrten macht, ist die reiche Zahl 
geheiligter Stätten und die Fülle geschichtlicher Erinnerungen. 
Für den Besuch des deutschen Kaiserpaares und seines Geleits hatte 
freilich die Stadt so festlichen Schmuck angelegt, daß ihre Mängel vielfach 
darunter verborgen blieben. 
F. Hirts Deutsches Lesebuch. Ausg. E. IV. 
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