Da lief einer von den Leuten hinauf zu der 'Fürstin und hinter¬
brachte, daß ein fremder Gast, dem ein Löwe mitfolge, um einen
Trunk Wein bitten lasse. Die Herzogin verwunderte sich, füllte
ihm ein Geschirr mit Wein und sandte es dem Pilgrim. „Wer
magst du wohl sein,“ sprach der Diener, „daß du von diesem
edlen Wein zu trinken begehrst, den man allein der Herzogin
einschenkt?“ Der Pilgrim trank, nahm seinen goldnen Hing und
warf ihn in den Be-her und ließ diesen der Braut zurücktragen.
Als sie den Ring erblickte, worauf des Herzogs Schild und Name
geschnitten war, erbleichte sie, stund eilends auf und trat an die
Zinne, um nach dem Fremdling zu schauen. Sie ward des Herrn
inne, der da mit dem Löwen saß; darauf ließ sie ihn in den Saal
entbieten und fragen, wie er zu dem Ring gekommen wäre, und
warum er ihn in den Becher gelegt hätte. „Von keinem hab’ ich
ihn bekommen, sondern ihn selbst genommen, es sind nun länger
als sieben Jahre; und den Ring hab’ ich hingelegt, wo er billig
hingehört.“ Als man der Herzogin diese Antwort hinterbrachte,
schaute sie den Fremden an und fiel vor Freuden zur Erde,
weil sie ihren geliebten Gemahl erkannte; sie bot ihm ihre
weiße Hand und hieß ihn willkommen. Da, entstand große
Freude im ganzen Saal: Herzog Heinrich setzte sich zu seiner
Gemahlin an den Tisch, dem jungen Bräutigam aber wurde ein
schönes Fräulein aus Franken angetraut. Hierauf regierte Herzog
Heinrich lange und glücklich in seinem Reiche. Als er in hohem
Alter verstarb, legte sich der Löwe auf des Herrn Grab und
wich nicht davon, bis er auch verschied. Das Tier liegt auf der
Burg begraben, und seiner Treue zu Ehren wurde ihm eine Säule
errichtet.
123. Das Rittertum.
J. C. Andrä.
1. Entstehung des Rittertums. — Das Rittertum hat sich
aus dem Reiterdienste hervorgebildet, der als vorzüglich ehrenvoll galt.
Ihm widmeten sich die Reichen und Adeligen, die den Kriegerstand zu
ihrem Lebensberufe machten. Schwer gerüstet, vom Kopf bis zu den
Füßen mit Eisen bedeckt, von Jugend auf im Gebrauche der Waffen
geübt, waren diese den gemeinen Kriegern, die zu Fuß dienten, weit
überlegen; fast einzig auf ihrer Anzahl beruhte die Stärke des Heeres.
Von ihrem Reiterdienste erhielten sie den Namen Ritter.
Deutsches Lesebuch. Ausgabe v. V. Teil. 5. Auflage.
12