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armer Leinweber, ein ehrlicher Meister aus dem Ortoö. Sein Gesieht sah
Jor Hunger und Grämen selber aus, vie graue Leinwand. Er zahlte ihm,
damit der reiche Mann Geld sahe, 3 Thaler 22 Groschen auf den Tisch.
Die 22 Groschen bestandon aus Dreiern, Vierlingen und Groschen und
dechsern vom alten Fritz, die man sonst wohbl Stiefellcnechte nannte; denn
der Mann hatte alles zusammengesueht. Aber der Bauer sprach: „Euer
Aufzahlen hilft Euch nichts; vier Thaler, das ist mein Satz. Eher tue
ieh meinen Boden nieht auf. Vad am muss es ordentlich Courant sein.“
Des Bauern sõhnehen, ein Bürschehen von zehn Jahren, zupfte den Alten
am Rocke: „Vater, gebt's ihm doch!“ Aber sein Vater prägte ihm mit 10
einem Rippenstosse bessere Grundsatze ins Herz. Der Weber mulste sein
Geld zusammenstreichen und heimwandern. Den 8. NMai in der Abend-
dammerung kam die Zeitung an. Ein Blick hinein und der Bauer fand,
Vas er finden wollte: „Roggen vier Thaler.“ Da zitterten um die Guade
vor Freude. Er nahm ein Licht, ging auf den Boden und wollte uüber- 15
sehen, wieviel er wohl verkaufen kõnnte, und ubersehlagen, wie gross seine
Einnahme ware. Indem er dureh dio Haufen und gefüllten Sacke hin-
schreitet, strauchelt er an einem umgefallenen, fallt selber, das Licht fliegt
ihm aus der Hand und in emnen Haufen Stroh, der daneben liegt. Ebe
er sieh aufraffen kann, steht das Stroh in hellen Vammen. Ehe an Hilfe 20
zu denken ist, hat das Feuer Dachstuhl und Dielen ergriffen. Um Nitter-
nacht an demselben Tage, wo der Scheffel Roggen vier Thaler galt, wo er
auf seinen Satz gekommen war, wo er seinen Boden, geõffnet hatte, stand
er am Schutthaufen seines ganzen Gutes als ein armer Manmn.
195. Der Schueider in Pensa.
Gebel)
Der Schneider in Pensa: was ist das für ein Männlein? Sechsund—
zwanzig Gesellen auf dem Brette jahraus jahrein, für halb Rußland Arbeit
genug, und doch kein Geld — aber einen frohen, heitern Sinn, ein Gemüt
treu und köstlich wie Gold, und mitten in Asien deutsches Blut, rheinländische 30
Gastfreundschaft.
Im Jahre 1812, als Rußland nimmer Straßen genug hatte für die
Nriegsgefangenen an der Berezina oder in Wilna, ging eine auch durch Pensa,
welches für sich schon mehr als einhundert Tagreisen weit von Lahr oder Pforz.
heim entfernt ist, und wo die beste deutsche oder englische Uhr, wer eine hat,
nimmer geht wie daheim, sondern um ein paar Stunden zu spät. In Pensa
ist der Sitz des ersten russischen Statthalters in Asien, wenn man von Europa
aus hereinkommt. Also wurden dort die Kriegsgefangenen abgegeben und dann
weiter abgeführt, in das tiefe, fremde Asien hinein, wo die Christenheit ein
Ende hat und niemand mehr das Vaterunser kennt, wenn's nicht einer gleich⸗ 40
sam als eine fremde Ware aus Europa mitbringt.
Also kamen eines Tages, mit Franzosen untermengt, auch sechzehn Rhein⸗
länder, badische Offiziere, die damals unter den Fahnen Napoleons gedient
hatten, über die Schlachtfelder und Brandstätten von Europa, ermattet, krank,
mit erfrorenen Gliedmaͤßen und schlecht geheilten Wunden, ohne Geld, ohne 45
Kleidung, ohne Trost, in Pensa an und fanden in diesem unheimischen Lande
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