Full text: [Oberstufe, 1. Abteilung, [Schülerband]] (Oberstufe, 1. Abteilung, [Schülerband])

waren auf den Lehrer gerichtet; aber den Kopf neigte er etwas au 
die linke Seite und horchte mit seinem rechten Ohre wie der Hahn 
auf der Deichsel, wenn er in Gedanken ist, er wußte selbst nicht, 
auf was. Einmal fragte der Lehrer: „Nun, Thomas, wo liegt 
Konstantinopel?“ Und er antwortete: „Am Tiber“; denn bis dort⸗ 
hin war er dem Lehrer im Geiste nachgegangen. Da aber hatte er 
ihn verlassen und nach seiner Gewohnheit einen Seitenweg einge⸗ 
schlagen. Weil aber in der lateinischen Schule zu Hollenried mit 
harer Münze bezahlt zu werden pflegte, so verabreichte ihm der Lehrer 
alsbald sein Teil. 
Also merkte Thomas bald, daß das Horchen nicht zum besten 
bezahlt würde. Er wollte es aber dennoch nicht lassen und versuchte 
es noch einmal, als seine Mutter krank wurde und nicht mehr hin⸗ 
untergehen konnte, sondern droben bleiben mußte in ihrer Schlaf⸗ 
stube. Er ging nach der Schule zu ihr hinauf und machte die 
Gillerläden zu, weil er merkte, daß ihr das Licht in den Augen 
weh that. Dann setzte er sich nicht fern von ihrem Bette auf einen 
Stuhl und horchte. Und wenn die gute Mutter nur den Kopf 
bewegte oder den Arm, war er sogleich bei der Hand und fragte, 
ob sie dies wolle oder das. Und ob sie gleich in ihrer großen 
Schwachheit nicht lauter lispeln konnte als ein Abendlüftlein zwischen 
dem Schilfrohre, verstand er sie doch und besorgte ihr alles, 
als hätte er das Krankenwarten bei den barmherzigen Schwestern 
gelernt. Die Mutter wurde aber nach sechs Wochen wieder gesund 
und begab sich nach ihrem ersten Ausgange nicht geradeswegs wieder 
nach Hause, sondern zum Buchhändler und kaufte ihrem Thomas 
den „Armen Heinrich“ mit schönen Bildern zum Lohne für sein 
Horchen. 
Als Thomas nun merkte, daß zwischen Horchen und Horchen 
ein Unterschied ist, verblieb er bei dem bessern Teile, besonders 
in seinen spätern Jahren, als er schon Pfarrer von Frischengrün 
war. Und weil man den Willen Gottes nicht immer vernehmen 
kann wie die Stimme des Ausrufers auf der Gasse, horchte er 
noch fleißiger darauf als vordem auf das Lispeln seiner kranken 
Multer. Deswegen bekam er auch eine große übung darin und 
hörte oft mehr als andere Leute. 
So kam er einmal von der Beistunde heim, und sein Töchter— 
lein sagte zu ihm: „Vater, der Schäfer ist krank geworden und 
hat Sehnsucht nach dir.“ Der Pfarrer aber sprach bei sich: „Wenn
	        
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