229
„Führe mich zu deiner Mutter, Kleine!“ sagte er und folgte
dem Mädchen, das ihn durch mehrere Straßen und Gäßchen
bis zu einem lleinen, baufälligen Hause führte.
„Hier wohnen wir, Herr!“
Sie schritien zwei schmale, alte, knarrende Treppen hinan.
Dann öffnete die Kleine eine Bodentür, und der Herr hatte
nun einen Einblick in eine halb finstere, unheimliche Dach—
kammer. Der Verschlag war feucht und kalt, und in der Ecke
lag auf ärmlichem Lager eine junge Frau, der das Unglück in
den Augen zu lesen war. Sie richtete sich stöhnend auf, als
der Fremde eintrat.
O, Herr Doktor“, sagte sie, „es ist nicht recht, daß meine
Tochter Sie heimlich gerufen hat. Ich habe keinen Heller und
kann nichts bezahlen.“
Der fremde Herr winkte einen Diener herbei, der ihm
gefolgt war, und sagte ihm einige Worte, worauf dieser sich
entfernte.
„Haben Sie niemand, der für Sie sorgt?“ fragte er dann.
„Ich habe keinen Verwandten, der sich um mich kümmern
könnte, und meine Wirtsleute sind selber arm. Mein Mann
war Arbeiter. Solange er lebte, ging es uns gut; seit er tot
ist, habe ich Tag und Nacht gearbeitet, um uns zu ernähren.
Dann wurde ich krank, und so kamen wir in Not und Elend.“
Der Herr gab dem Mädchen Geld: „Geh, hole Brot und
Wein!“ Schnell eilte das Mädchen davon und kehrte bald mit
freudestrahlendem Gesichte zurück, ein Brot im Arme und eine
Flasche Wein in der Hand.
„Das lohne Ihnen Gott!“ sagte die Frau mit Tränen in
den Augen.
Da trat ein Arzt ein, den der Diener herbeigerufen hatte.
Ehrfurchtsvoll verneigte er sich vor dem fremden Herrn, der
diesen Augenblick benutzte, um still eine Kassenanweisung auf
den Tisch zu legen und sich dann unbemerkt zu entfernen.
Der Arzt untersuchte den Zustand der Kranken, gab seine
Verordnungen und bemerkte, daß er seinen Besuch jeden Tag
wiederholen werde. Wegen der Zahlung dürfe sie sich keine