Full text: Lesebuch für die Oberklassen der Volksschulen

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ein Kind zu erhaschen, sondern bleibt im Wald und auf der 
Ap als seinem eigentlichen Jagdrevier. 
Ist das Tier in Gefahr, so verändert sich seine Gut— 
mütigkeit bis zur reißendsten Wut. Ein kluger Jäger wird 
es nie wagen, einen jungen Bären zu schießen, wenn dessen 
Mutter in der Nähe ist; sie würde ihn mit rasendem Geheule 
verfolgen und zerfleischen; ebenso gefährlich ist der verwundete 
Bär. Nur sehr selten flieht er; gewöhnlich wendet er sich 
um und geht aufrecht auf den Verfolger los und wäre 
derselbe noch so gut bewaffnet. Er fordert ihn gleichsam 
zum Zweikampfe heraus, umspannt ihn, wenn er nicht vor— 
her einen Dolchstoß ins Herz erhält, mit seinen mächtigen 
ttn und ringt männlich mit ihm, bis einer von beiden 
ällt. 
Zu Bern werden seit Jahrhunderten in einer mit 
Quadern ausgelegten Grube im Stadtgraben aus den Zinsen 
eines alten Vermächtnisses mehrere Bären als lebendiges 
Sinnbild der Macht Berns gepflegt. Dort hat man be— 
obachtet, daß die Bärinnen ein, zwei oder drei Junge werfen. 
Die niedlichen, blinden und unbeholfenen Tiere sind nicht 
größer wie eine Ratte, von fahlgelber Farbe, um den Hals 
weiß, haben durchaus noch nicht das Aussehen eines Baͤren, 
wenn auch eine verhältnismäßig starke Stimme. Nach vier 
Wochen öffnen sich ihre Augen; sie haben dann schon zoll— 
lange, Wolle und sind doppelt so groß als bei ihrer Geburt. 
Die Auglein liegen tief; die Schnauze ist ganz spitz Nach 
vier Monaten sind die Bärchen schon von der Groͤße eines 
Pudels, dabei ungemein possierlich, geschickt im Klettern, 
immer miteinander spielend und balgend, aber sehr furchtsam 
Ihre gelbliche Farbe verliert sich immer mehr ins Braune 
und Schwarze. In Bern hatte man 40 Jahre lang einen 
Bären; sonst weiß man über die Lebensdauer dieses Tieres 
nichts ganz Genaues. 
Die Tatzen sind bekanntlich ein Leckerbissen; das übrige 
Fleisch wird von den Bergbewohnern einige Zeit in frisches 
Wasser gelegt um ihm den süßlichen Geschmack zu nehmen, 
worauf es ähnlich wie zartes Schweinefleisch schmeckt. Die 
Haut ist 16 bis 20 Franken wert. In mehreren Gegenden 
steht noch ein besonderes Schußgeld auf der Erlegung dieses 
Raubtieres; doch wird es noch lange dauern, ehe es in den 
steilen und einsamen Rhätischen Alpen ausgerottet ist. 
(Sriedr. v. Tschudi.)
	        
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