Full text: Mit erläuternden Abbildungen aus den Gebieten der Erd- und Naturkunde und der Geschichte, wie mit geschichtlichen und literaturgeschichtlichen Charakterköpfen nach Originalzeichnungen (Theil 4, Abtheilung 1, [Schülerband])

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6. Das Gloͤcklein des Glüͤcks. 
und sieh' — zu wissen glaubt er's — da wird kein Tag entflieh'n, 
an dem er nieht mit Rechten das Glöcklein dürfte zieln,. 
6. Und Tag um Tage hoben ihr rosigi Haupt empor; 
doeh Abends, wenn sie's senken, trügt's einen Prauerslor. 
Oft langt er nach dem Seile, das Auge Klar und lieht; 
da zuekt ihm was dureh's Inmre, das Seil berührt er nicht. 
7. Einst tritt er voll des Glüekes erhöh'ter Freundschast hin. 
„Auslüuten,“ ruft er, „will ieh's, wie hoeh beglüekt ieh bin!“ 
Da keueht ein Bot in's Zimmer, der's minder spricht als weint: 
„vllerr, den du Freund geheiben, verrieth dieh wie ein Feinde 
8. Einst fliegt er voll des Gluüekes erhörter Lieb' hinein. 
„Mein Glüek, mein Glüek,“ s0 ruft er, „muss ausgeläutet sein!“ 
Da kommt sein blasser Kanzler und murmelt bang' und seheu: 
„„Herr, blüht denn aueh hienieden dem Kõönig keine Preu?“ 
9. Der König mag's verwinden, er hat ja noeh sein Land 
und einen vollen Säckel und eine mũeht'ge Hand; 
er hat noeh grüne Felder, noch Wiesen, voll von Dust, 
und drauf den Fleiß von Menschen und drüber Gottes Luft. 
10. Zu seinem Penster tritt er, sieht nieder, sieht hinaus. 
und WMiege seines Glückes bedünkt ihn jedes Haus. 
Zum Seil hin eilt er glühend, will zieh'n, will läuten, sieh'! 
Da stürmt's herein zum Saale, da fallt's vor ihm auf's Knie. 
II. „„Herr König, siehst du drüben den Raueh, den Brand, den Strabl? 
80 rauehen unsere Hütten, so blitzt der Nachbara Stahl let 
„Ha, freche Räuber!“ donnert der Fürst in wildem Glühn, 
und statt des Glöckleins mub er sein rüchend Eisen zieh'n. 
12. Schon bleichen seine Haare, von Dulden wird er scehwach, 
und stets noech sehweigt das Glöcklein auf seines Hauses Dach. 
Und wenn's aueh oft wie Freude sieh auf die Wang' ihm drüngt, 
er denkt kaum noeh des Glöckleins, das er hinauf gehüngt. 
13. Doch als er nun zu sterben in seinem Stuhle sab, 
da hört er vor den Fenstern Geschluchz' ohn' Unterlab. 
„Mas soll das?“ fragt er leiss den Kanzler, „sprieh's nur aus!“ — 
„„Ach Herr, der Vater seheidet, die Kinder stehn vor'm Hauset 
14. „Herein mit meinen Kindern! Und war man mir denn gut?“ — 
„„Stünd', Herr, zu Kauf ein Leben, sie kauften dein's mit Blut 
Da wogt's aueh schon zum Saale gedämpften Schritts herein 
und will ihn nochmals segnen, ihm nochmals nahe sein. 
15. „Ihr liebt mieh also, Kinder?“ — Und tausend weinen: 
Der König hört's, erhebt sieh, steht wie ein Heil'ger da, 
sieht auf zu Gott, zur Decke, langt naeh dem Seile stumm, 
thut einen Rib, — es läutet, — und lächelnd sinkt er um. 
Joh. Gabr. Seidl.
	        
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