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Noch einmal kam der alte Eiskönig zu ihr und bestürmte sie mit
seiner Werbung; — noch einmal bat und beschwor er sie, seine Frau zu
werden, aber Westa wendete sich voll Abscheu ab und sagte wieder: „Nie
und nimmer!“
Da war die Wut des abgewiesenen Freiers grenzenlos. „So sollst
du es büßen!“ schrie er mit Donnerstimme. „In drei Tagen ziehe ich
mich in mein nordisches Reich zurück, dann mögest du hier bei Wasser
und Brot in ewiger Gefangenschaft verharren!“ Damit warf er die Tür
zu, und Westa war allein in ihrem verzauberten Zustand, allein mit ihrem
Kummer, ihrem Herzeleid. „O könnte ich sterben!“ stöhnte sie in größter
Qual.
Doch horch! — drang da nicht ein Geräusch an ihr Ohr? — War's
nicht, als ob Wasser unter ihren Füßen rauschte? — „O!“ dachte sie,
„käme doch Erlösung! — Winkte mir doch die Freiheit oder — der Tod!“
Und immer deutlicher hörte sie das Rauschen des Wassers, und plötz—
lich — knick — knack — brach der Boden unter ihren Füßen entzwei,
und in der Offnung wurde ein Boot mit einem Fährmann sichtbar, der
sprach:
„Ich bringe einen Gruß vom Prinzen Besko, meinem Herrn, teure
Prinzessin, und bin gekommen, dich zu befreien. Steige ein und laß uns
von hinnen eilen, denn die Untergebenen des Beherrschers des Weichsel—
gebiets werden bald den Kristallpalast mitsamt dem Eiskönig verderben.
Steige ein!“
Als Westa diese Worte hörte, tönten sie ihr wie Himmelsmusik.
„Besko, mein Besko!“ rief sie ein über das andre Mal und war vor
Glück nicht fähig, sich zu rühren. Da hob der Fährmann sie ins Boot
und ruderte schnell mit ihr davon.
Inzwischen wurden die Wellen der Weichsel in Dienst gestellt. Schnell
vereinigten sich viele kleine zu einer großen, sie zerbrachen mit ungeheurer
Gewalt das gerade die Weichsel in dicker Stärke bedeckende Eis, schoben
alle daraus entstandenen Eisschollen mit großer Kraft die Weichsel ent—
lang und trieben dieselben dann mit mächtigem Stoß in den unterirdischen
Weg zur Ostsee, und mit großer Kraft und furchtbarem Krach rissen sie
die obere Erde mitsamt dem Kristallpalast in die See.
In demselben Augenblick, als die Weichsel die Erde durchbrach, hatte
der gute Fährmann sorglich Prinzessin Westa im Hain gelandet. Dort
wurde sie von Besko, der ihrer harrte, mit stürmischem Jubel begrüßt.
Endlich nach langer, langer Zeit stand sie wieder im Hain an der
wogenden See, von Beskos Armen fest umschlungen. Eben sahen sie,
wie der Kristallpalast unter dem Rauschen und Wogen des Wassers mit
Hirts Deutsches Lesebuch. Ausg. B. II. Neubtg.
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