I I
ganz übersehen, und über ihn führte der einzige Weg, der es ermöglichte,
die Preußen von vorn anzugreifen. Die hauptarmee hatte sich eine Stunde
weiter nach Weimar aufgestellt. Die Preußen waren mit gutem Mut, ja
mit Übermut in den Kampf gezogen. Ihnen gegenüber standen die Feinde,
die Franzosen. Schon wurden die Vorbereitungen zu der großen Schlacht
getroffen. Alle Dörfer ringsum waren bereits von den Feinden geplündert,
und viele von ihren Einwohnern hatten sich mit einem Teil ihrer habe
und ihres Viehes auf die bewaldeten höhen jenseits der Saale geflüchtet.
An einem Bergabhange des linken Saaleufers stand am Nachmittag
des 12. Oktober ein Mann, der den Kopf auf einen langen Stab gestützt
hatte und so in das Tal hinabschaute, durch welches die Straße von Jena
nach Naumburg sich hindurchzieht. Unten war ein wirres, buntes Leben.
Soldaten, Wagen, Pferde drängten einander. Starr und gedankenvoll
ruhte sein Auge auf diesem Treiben. Die Kleidung des Mannes, ein blauer,
langer Kock, ein großer, schwarzer, breitkrempiger hut und eine lange
Weste zeigten auf den ersten Blick, daß er ein Schafhirt war. Nur zu⸗
weilen warf er einen traurigen Blick auf die vier oder fünf Schafe neben
ihm. Noch vor kurzer Zeit hatte er für seinen herrn eine zahlreiche Herde
geweidet. Diese wenigen Tiere waren sein Eigentum, und er hatte sich mit
ihnen hierher geflüchtet. Der Abhang des Berges war steil, und er durfte
hoffen, daß die Feinde nicht auf den Berg kommen würden. In dem
Dorfe dort unten besaß der Schäfer ein Haus. Die Franzosen hatten ihn
daraus vertrieben. Alle Vorräte, die er für seine Familie und seine Tiere
für den Winter angesammelt hatte, waren ihm genommen worden. Was
sollte er nunnoch da unten im Dorfe? Seine beiden Söhne standen drüben
im preußischen heere, und zu ihnen eilten seine Gedanken. Wenn er jünger
gewesen wäre, er hätte gern die Waffen in die Hand genommen, um die
Frechheit der übermütigen Eroberer züchtigen zu helfen; aber in seinen
Jahren konnte er nicht mehr daran denken, unter die Soldaten zu gehen.
Da kam ein Mann schräg an dem Abhange des Berges daher und
eilte auf ihn zu. Er hörte ihn nicht, bis der neben ihm sitzende Hund laut
anschlug. Schnell wandte der hirte den Kopf. Doch seine Augenbrauen
zogen sich finster zusammen, als er den Kommenden erkannte.
„Nun, Born,“ rief dieser, ein Mann, dessen stechende Augen seinem
Gesicht einen unheimlichen Ausdruck gaben: „Nun, Ihr steht hier so
ruhig, als ob da unten nichts los wäre. Da ist ein Leben und Treiben
ringsum. Man sollte eigentlich Gott danken, wenn man mit heiler haut
heraus wäre.“
„Niemand hindert Euch daran,“ antwortete kalt der Schäfer.
„Eure Söhne stehen dort oben unter den Preußen, nicht wahr?“
fragte der Fremde. Born nickte besahend. „Und Eure Frau und Tochter?“