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Die kleinen Singvögel brüten unverdrossen das Kuckucksei mit aus und
füttern den jungen Kuckuck wie ihre eigenen Kinder mit Insekten groß.
Doch der junge Kuckuck, der seine Stiefgeschwister bald an Größe überragt,
schnappt ihnen schreiend jeden Bissen weg. Die armen, kleinen Nestbrüder
verkümmern daher nicht selten; ja wenn er größer geworden ist, und der
Platz ihm zu eng wird, wirft er sie unbarmherzig hinaus. Dann kommen
sie im nassen, kalten Grase um oder werden von Katzen und Wieseln
gefressen.
6. Je größer der junge Kuckuck wird, desto unartiger zeigt er sich.
Er gehorcht seinen Stiefeltern nicht und beträgt sich sehr schlimm gegen
seine Wohltäter. Außerordentlich groß ist seine Freßgier, und nicht selten
erfaßt er den Kopf des Vögleins mit seinem Schnabel, wenn er den
Wurm erschnappen will, den dieses ihm bietet. Sind ihm endlich Federn
und Flügel gewachsen, so wagt er sich aus dem Neste, das ihm jetzt viel
zu eng ist, hüpft von Zweig zu Zweig, und seine Pflegeeltern tragen ihm
trotz seiner Unart noch emsig Futter zu, bis er, seiner eigenen Flügel hin—
länglich mächtig, sich selbst die Nahrung suchen kann. So erziehen die
kleinen Vogel des Waldes dem alten Kuckuck die Kinder, ohne Dank da—
für zu ernten.
Der junge Kuckuck lernt also nie Vater noch Mutter kennen; denn bald
ziehen diese hinweg nach andern Ländern, in die kein Winter kommt, und
wo ihnen die Nahrung nicht fehlt. Im Herbste finden sich auch die jungen
Kuckucke zusammen; sie machen sich auf die Reise und bleiben so lange
entfernt, bis bei uns von neuem ihr Tisch vom Frühling gedeckt ist und
ihr vielbedeutender Ruf uns aus den Winterstuben hinaus in den Wald
lockt, Kuckucksblumen zu suchen.
Nach Hermann Wagner. Giographien aus dem Naturleben.
63. Das Vogelnest.
1. In einem Fliederbaume hatte sich ein Vogelpärchen sein Heim
eingerichtet. Das Weibchen saß im Nest, und das Männchen stand auf
einem Zweige nahe dabei und sang unter den duftenden Blüten sein
Kiedchen.
Da streckte sich eine kleine Hand nach dem Nest aus. Das Lied
verstummte, und beide Vögelchen stießen ein jämmerliches Angstgeschrei
aus. Das Männchen flatterte wild umher, als wollte es sich dem Feind
entgegenstürzen; aber das Weibchen breitete die Flügel aus und sah mit
angsterfüllten, flehenden Blicken den Jungen an, der nach seinem Neste griff.
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