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Großen an Macht und Wohlstand zunahm, zeigten sich in Frankreich immer
Deutlicher drohende Anzeichen des nahen Verfalls. Seit mehr als einem Jahr-
hundert hatten sich die französischen Könige an allen größeren Kriegen Mittel-
europas beteiligt und dadurch ihrem Lande eine ungeheure Schuldenlast auf-
gebürdet. Durch die verschwenderische Hofhaltung und durch kostspielige Bauten
wuchs diese noch von Jahr zu Jahr, so daß sie unter Ludwig XVI. über
4 Milliarden Franken betrug und das Land nicht mehr imstande war, die
Zinsen aufzubringen. Die Steuern wurden deshalb immer unerträglicher, und
sie lasteten um so schwerer aus dem Volke, da sie von den Bürgern und
Bauern allein aufgebracht werden mußten; denn der Adel und die Geistlichkeit,
die fast 2/s vom Grund und Boden besaßen, waren von jeder Abgabe befreit.
Am traurigsten war die Lage der Bauern; denn sie hatten außerdem noch
dem Adel die schwersten Frondienste zu leisten und der Kirche den Zehnten
zu zahlen. Unter dem Volke entstand deshalb eine große Verbitterung, und
die Forderung nach einer Besserung seiner Lage wurde immer allgemeiner.
Dazu kam noch, daß die Rechtspflege parteiisch war und der Arme selten
gegen den Reichen recht bekam. Eine allgemeine Sittenverderbnis riß ein,
da das üppige und sittenlose Leben am Hose bei dem Volke Nachahmung
fand. So mußte es schließlich dahin kommen, daß das Volk vor den Männern,
die an der Spitze des Staates standen, nicht nur alle Achtung verlor, sondern
sie sogar verachtete und haßte. Um so mehr Eindruck machte die Behauptung
vieler Schriftsteller jener Zeit, daß der allgemeine Volkswille in dem Staate
zu gelten habe und vor dem Gesetze alle gleich seien. Friedrich der Große
hatte erkannt, daß die Lage Frankreichs gefährlich war. Kurz vor seinem
Ende sagte er zu seinem Großneffen Friedrich Wilhelm: „Ich fürchte, nach
meinem Tode wird's pele-mele gehen. Überall liegen Gärungsstoffe, und
leider nähren sie die regierenden Herren, vorzüglich in Frankreich, statt sie zu
beruhigen und auszutilgen. Die Massen sangen schon an, von nntenauf zu
drängen, und wenn dies zum Ausbruch kommt, so ist der Teufel los." Diese
Zeit war näher, als er gedacht hatte.
2. Die Einberufung der Rricbsftände. 1789. Auf den sittenlosen
Ludwig XV. folgte im Jahre 1774 Ludwig XVI., ein gutmütiger, aber
schwacher Regent. Unter seiner Regierung wurde die Geldnot des Staates
so groß, daß er sich genötigt sah, im Jahre 1789 die Reichsstände nach
Versailles zu berufen, damit sie ihm neue Steuern bewilligten. Diese Versamm-
lmtg bestand aus 300 Adligen, 300 Geistlichen und 600 Bürgerlichen. Ihre
Verhandlungen nahmen aber bald einen ganz andern Verlauf, als der König
gedacht hatte. Adel und Geistlichkeit wollten nach Ständen abstimmen; die
Bürgerlichen dagegen verlangten die Abstimmung nach Köpfen. Darüber kam
es zu heftigem Streit, den der König dadurch beendigen wollte, daß er die
Versammlung für aufgelöst erklärte. Aber die Bürgerlichen gingen nicht,
sondern erklärten sich zur „Nationalversammlung", da sie 24 Millionen, die
andern aber nur 1 Million Franzosen zu vertreten hätten. Dann schwuren
sie, nicht eher auseinander zu gehen, bis das Volk eine neue Verfassung
erhalten habe. „Wir weichen nur den Bajonetten!" rief Graf Mirabeau, der