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A. Deutscher Lebensspiegel.
34. Der Wolf und der Mensch.
Der Fuchs erzählte einmal dem Wolf von der Stärke des Menschen.
Kein Tier, sagte er, könnte ihm widerstehen, unb sie müßten List gebrauchen,
um sich vor ihm zil erhalten. Da antwortete der Wolf: „Wenn ich nur
einmal einen Menschen zu sehen bekäme; ich wollte doch ans ihn los-
gehen!" — „Dazu kann ich dir helfen," sagte der Fuchs, „komm nur morgen
früh zll mir, so will ich dir einen zeigen." Der Wolf stellte sich frühzeitig
ein, und der Fuchs brachte ihn hinaus auf den Weg, den der Jäger alle
Tage ging. Zuerst kam ein alter, abgedankter Soldat. „Ist das ein
Mensch?" fragte der Wolf. — „Nein," antwortete der Fuchs, „das ist
einer gewesen." Daliach kam ein kleiner Knabe, der zur Schule gehen
wollte. „Ist das ein Mensch?" — „Nein, das will erst einer werden."
Endlich kam der Jäger, die Doppelflinte auf dem Rücken und den Hirsch¬
fänger an der Seite. Sprach der Fuchs znm Wolf: „Siehst du, dort
kommt ein Mensch, ans den mllßt du losgehen; ich aber will mich fort
in meine Höhle machen."
Der Wolf ging nun auf den Menschen los. Der Jäger, als er ihn
erblickte, sprach: „Es ist schade, daß ich keine Kugel geladen habe," legte
an und schoß dem Wolfe das Schrot ins Gesicht. Der Wolf verzog das
Gesicht gewaltig, doch ließ er sich nicht schrecken und ging vorwärts. Da
gab ihm der Jäger die zweite Ladung. Der Wolf verbiß den Schmerz
und rückte dem Jäger doch zu Leibe. Da zog dieser seinen blanken Hirsch-
fällger und gab ihm links und rechts ein paar Hiebe, daß er, über und
über blutend, mit Geheul zu dem Fuchse zurücklief.
„Nun, Bruder Wolf," sprach der Fuchs, „wie bist du mit dem Menschen
fertig geworden?"— „Ach!" antwortete der Wolf, „so habe ich mir die
Stärke des Menschen nicht vorgestellt. Erst nahm er einen Stock von der
Schulter und blies hinein; da flog mir etwas ins Gesicht, das hat mich
ganz entsetzlich gekitzelt. Danach blies er noch einmal in den Stock, da
flog mir's um die Nase wie Blitz und Hagelwetter; und wie ich ganz
nahe war, da zog er eine blanke Nippe aus dem Leibe, damit hat er so
aus mich losgeschlagen, daß ich beinahe tot liegen geblieben wäre." —
„Siehst du," sprach der Fuchs, „was für ein Prahlhans du bist?"
Lrüder Vrimm.
35. Die Stimme des Gewissens.
Ein reicher Mann, Namens Pohl, der mehrere Häuser besaß, befahl
seinen Dienern, ans einem derselben eine arme Witwe samt ihren Kindern
zu vertreiben, weil sie die jährliche Miete nicht zu zahlen vermochte. Als
die Diener kamen, sprach die Witwe: „Ach, verziehet ein wenig! Vielleicht,
3. Behüte dein Herzt
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daß euer Herr sich unser erbarme! Ich will hingehen und ihn bitten."
Darauf ging die Frau mit vier Kindern zu dem reichen Manne; das eine
aber blieb zu Hause; denn es war sehr krank. Alle flehten inbrünstig, sie
nicht zu verstoßen, und selbst das kleinste rief: „Bitte, bitte!" — Pohl
aber sprach: „Meine Befehle kann ich nicht ändern, es sei denn, daß Ihr
(Sure Schuld sogleich bezahlet." Da weinte die Mutter bitterlich und sagte:
„Ach, die Pflege des kranken Kindes hat allen meinen Verdienst verzehrt
uitb meine Arbeit gehindert!" Und die Kinder flehten mit der Mutter,
sie nicht zu verstoßen.
Aber Pohl wandte sich weg von ihnen und ging in sein Gartenhaus
und legte sich aus das Polster, um zu ruhen, wie er pflegte. Es war
aber ein schwüler Tag, und dicht am Gartensaale floß ein Strom; der
verbreitete Kühlung, und es war eine Stille, daß kein Lüftchen sich regte.
Da horte Pohl das Gelispel des Schilfes am Ufer; aber cs tonte ihm
gleich dem Gewinsel der Kinder der armen Witwe, und er ward unruhig
ans seinem Polster. Danach horchte er auf das Rauschen des Stromes,
und es deuchte ihm, als ruhe er am Gestade eines öden, großen Meeres,
und er wälzte sich auf seinem Pfühle. — Als er nun wieder horchte, erscholl
ans der Ferne der Donner eines aufsteigenden Gewitters; da war ihm,
als vernähme er die Stimme des göttlichen Gerichts.
Nun stand er plötzlich auf, eilte nach Hause und gebot seinen Knechten,
die arme Witwe wieder ins Haus zurückzuführen. Aber sie war samt
ihren Kindern in den Wald gegangen und nirgends zu finden. Unterdes
stieg das Gewitter herauf, und es donnerte und fiel ein gewaltiger Regen.
Pohl aber war voll Unmut und fand keine Ruhe, wo er auch ging, und
wo er auch saß. Am andern Tage vernahm er, das kranke Kind sei im
Walde gestorben und die Mutter mit den andern hinweggezogen. Da
ward ihm sein Garten samt dem Saale und dem Polster zuwider, und
er genoß nicht mehr die Kühlung des rauschenden Stromes. Bald danach
siel er in eine Krankheit, und in der Hitze des Fiebers vernahm er immer
des Schilfes Gelispel und das Rauschen des Stromes und das dumpfe
Tosen des aufsteigenden Wetters. Also verschied er.
Friede. Adolf Grummacher.
Cin gut Gewissen ist ein sanftes Ruhekissen. — Lös Gewissen, böser
Gast; weder Ruhe, weder Rast.