Full text: Norddeutsches Lesebuch

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10. Und als er kam zur Felsenwand, 
da sprach der Ries' mit Lachen: 
„Was will doch dieser kleine Fant 
auf solchem Rosse machen? 
Sein Schwert ist zwier so lang als er, 
vom Resse zieht ihn schier der Speer, 
der Schild will ihn erdrücken.“ 
11. Jung Roland rief: „Wohlauf zum Streit! 
Dich reuet noch dein Necken 
Hab' ich die Tartsche lang und breit, 
kann sie mich besser decken; 
ein kleiner Mann, ein großes Pferd, 
ein kurzer Arm, ein langes Schwert, 
muß eins dem andern helfen“ 
12. Der Riese mit der Stange schlug 
auslangend in die Weite; 
jung Roland schwenkte schnell genug 
sein Roß noch auf die Seite. 
Die Lanz' er auf den Riesen schwang, 
doch von dem Wunderschilde sprang 
auf Roland sie zurücke. 
13. Jung Roland nahm in großer Hast 
das Schwert in beide Hände; 
der Riese nach dem seinen faßt; 
er war zu unbehende: 
mit flinkem Hiebe schlug Roland 
ihm unterm Schild die linke Hand, 
daß Hand und Schild entrollten. 
14. Dem Riesen schwand der Muth dahin, 
wie ihm der Schild entrissen; 
das Kleinod, das ihm Kraft verliehn, 
mußt' er mit Schmerzen missen. 
Zwar lief er gleich dem Schilde nach, 
doch Roland in das Knie ihn stach, 
daß er zu Boden stürzte. 
15. Roland ihn bei den Haaren griff, 
hieb ihm das Haupt herunter; 
ein großer Strom von Blute lief 
ins tiefe Thal hinunter. 
Und aus des Todten Schild hernach 
Roland das lichte Kleinod brach 
und freute sich am Glanze. 
16. Dann barg er's unterm Kleide gut 
und ging zu einem Quelle; 
da wusch er sich von Staub und Blut 
Gewand und Waffen helle. 
Zurücke ritt der jung' Roland, 
dahin wo er den Vater fand, 
noch schlafend bei der Eiche. 
17. Ex legt' sich an des Vaters Seit', 
vom Schlafe selbst bezwungen, 
his in der kühlen Abendzelt 
Herr Milon aufgesprungen; 
Wach auf, wach' auf, mein Sohn Roland! 
Nimm Schild und Lanze schnell zur Hand, 
daß wir den Niesen suchen!“ 
18. Sie stiegen auf und eilten sehr, 
zu schweifen in der Wilde; 
Roland ritt hinterm Vater her 
mit dessen Speer und Schilde. 
Sie kamen bald zu jener Stätt', 
wo Roland jüngst gestritten hätt'; 
der Riese lag im Blute. 
19. Roland kaum seinen Augen glaubt', 
als nicht mehr war zu schauen 
die linke Hand, dazu das Haupt, 
so er ihm abgehauen, 
nicht mehr des Riesen Schwert und Speer, 
auch nicht sein Schild und Harnisch mehr, 
nur Rumpf und blut'ge Glieder. 
20. Milon besah den großen Rumpf: 
„Was ist das für 'ne Leichel 
Man sieht noch am zerhaunen Stumpf, 
wie mächtig war die Eiche. 
Das ist der Riese; frag' ich mehr? 
Verschlafen hab' ich Sieg und Ehr', 
drum muß ich ewig trauern. — 
21. Zu Aachen vor dem Schlosse stund 
der König Karl gar bange: 
„Sind meine Helden wohl gesund? 
sie weilen allzu lange. 
Doch seh' ich recht, auf Königswort! 
so reitet Herzog Haimon dort, 
des Riesen Haubt am Speere.“ 
22. Herr Haimon ritt in trübem Muth, 
und mit gesenktem Spieße 
legt' er das Haupt, besprengt mit Blut, 
dem König vor die Füße: 
„Ich fand den Kopf im wilden Hag, 
und fünfzig Schriste weiter lag 
des Riesen Rumpf am Boden.“ 
23. Bald auch der Erzbischof Turpin 
den Riesenhandschuh brachte, 
die ungefüge Hand noch drin; 
er zog sie aus und lachte: 
„Das ist ein schön Reliquienstüch 
ich bring' es aus dem Wald zurück, 
fand es schon zugehauen“ 
24 Der Herzog Naims von Baierland 
kam mit des Riesen Stange: 
„Schaut an, was ich im Walde faud! 
ein Waffen, stark und lange. 
Wohl schwitz' ich von dem schweren Druck; 
heil bairisch Bier, ein guter Schluck, 
sollt' mir gar köstlich munden!“ 
25. Graf Richard kam zu Fuß daherx, 
ging neben seinem Pferde; 
das trug des Riesen schwere Wehr, 
den Harnisch sammt dem Schwerte: 
„Wer suchen will im wilden Tann, 
manch Waffenstück noch finden kann; 
ist mir zu viel gewesen.“
	        
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