Full text: Norddeutsches Lesebuch

79 — 
145. Zwei Räthsel. 
L. Zum Hofe des Landmanns mußt du gehn, 
wenn heiter und lustig du mich willst sehn. 
Auf Häusern und Kirchen, hoch oben auf 
Thürmen, 
da thron' ich zuweilen und trotze den 
Stürmen. 
Hier mach' ich gefesselt in Lüften die Runde 
und gebe willig dem Fragenden Kunde. 
Es rinnt durch mich der labende Wein, 
wenn müde du trittst in die Schenle ein. 
Ja, wär' ich nicht dabei gewesen, 
du hättest wohl kaum gelernt zu lesen. 
2. Wer nennt mir die Häuslein so nett und 
rein 
mit dem Gewölbe von weißem Stein? 
Sie entstehen von selber ohne Muh', 
du weißt wohl wo, doch weißt nicht wie. 
Gar friedlich in guter, warmer Hut 
ein ganzes Dörfchen beisammen ruht. 
Sie haben eine Besitzerin, 
die wohnet aber nicht selber drin. 
Jedoch die Bewohner — sie schlagen ent⸗ 
zwei 
die Häuschen, und siehe! da sind sie frei. 
146. Nie Einladung. 
Ein frommer Landmann in der Kirche saß; 
den Text der Pfarrer aus Johanne las 
am Ostermontag, wie der Heiland rief 
vom Ufer: „Kindlei, habt ihr nichts zu 
essen?“ 
Das drang dem Landmann in die Seele tief, 
daß er in stiller Wehmuth da gesessen. 
Drauf betet er: „Mein liebster Jesu Christ! 
so fragest du? O, wenn du hungrig bist, 
so sei am nächsten Sonntag doch mein Gast 
und halt' an meinem armen Tische Rast. 
Ich bin ja wohl nur ein geringer Mann, 
der nicht viel Gutes dir bereiten kann; 
doch deine Huld, die dich zu Sündern trieb, 
nimmt auch an meinem Tische wohl vorlieb.“ 
Er wandelt heim und spricht sein herzlich 
Wort 
an jedem Tag die ganze Woche fort. 
Am Samstag-Morgen läßt's ihn nimmer 
ruhn: 
Frau,“ hebt er an, „nimm aus dein bestes 
Huhn, 
bereit' es lräftig, fege Flur und Haus, 
stell' in die Stub' auch einen schönen Strauß; 
denn wisse, daß du einen hohen Gast 
auf morgen Mittag zu bewirthen hast. 
Putz' unsre Kinderlein, mach alles rein; 
der werthe Gast will wohl empfangen sein.“ 
Da springen alle Kinderlein heran 
„O Vater, wer? wie heißt der liebe Mann?“ 
Die Mutter frägt: „Nun, Vater, sage mir, 
gar einen Herren ludest du zu dir?“ 
Der Vater aber lächelt, sagt es nicht, 
und Freude glänzt in seinem Angesicht. 
Am Sountag ruft der Morgenglocken Hall; 
zum lieben Gotteshause ziehn sie all', 
und immer seufzt der Vater innerlich: 
„O liebster Jesu, komm', besuche mich! 
Du hast gehungert; ach, so möcht' ich gern 
dich einmal speisen, meinen guten Herrn.“ 
Wie die Gemeinde drauf nach Hause geht, 
die Mutter bald am Herde wieder steht 
Das Huhn ist weich, die Suppe dick und fett; 
sie deckt den Tisch, bereitet alles nett, 
trägt auf und denkt beim zwölften Glocken⸗ 
schlag: 
Wo doch der Gast so lange bleiben magl 
Es schlägt auf eins; da wird's ihr endlich 
bang: 
„Sprich, lieber Mann, wo weilt dein Gast 
so lang? 
Die Suppe siedet ein, die Kinder stehn 
so hungrig da, und noch ist nichts zu sehn 
Wie heißet denn der Herr? Ich glaube fast, 
daß du vergeblich ihn geladen hast.“ 
Der Vater aber winkt den Kinderlein. 
„Seid nur getrost! er kommt nun bald 
herein. 
Drauf wendet er zum Himmel das Gesicht 
und faltet zum Gebet die Hände spricht 
„Her Jesu Christe, komm, sei unser Gast 
und segne uns was du bescheret hast!
	        
Waiting...

Note to user

Dear user,

In response to current developments in the web technology used by the Goobi viewer, the software no longer supports your browser.

Please use one of the following browsers to display this page correctly.

Thank you.