65
46. Das Glöcklein auf dem Turme.
Im Dorfe steht das Kirchlein mit dem schlanken,
spitzen Kirchturme. Hoch oben auf dem Turme aber hängt
das Glöcklein und schaut zu den Guckläden überallhin in die
Gegend hinaus.
Einmal nun hatte das Büblein lange am Turme hinauf—
gesehen und durch die offenen Guckläden das Glöcklein von
allen Seiten betrachtet. Dann aber lief es eilig nach Hause
und sagte zur Mutter: „Was tut denn das Glöcklein immer—
fort auf dem Kirchturme droben? Sag doch, Mutter! Nach
wem schaut es denn? und warum ruft es so oft: Bim — bam;
kling — klang; bumm — bumm?“
2. Die Mutter aber sprach: „Ja, freilich, das ist eine
eigne Geschichte mit dem Glöcklein, und ich will sie dir wohl
erzählen, wenn du genau aufmerkst, mein Kind.“ Da setzte
sich das Kind mäuschenstill an die Seite der Mutter, wäh⸗
rend diese folgendes erzählte: „Das Glöcklein hängt keines—
wegs müßig auf dem Turme; Tag und Nacht hat es seine
Beschäftigung. Morgens früh, wenn der Hahn kaum gekräht
hat, muß es die Leute vom Schlafe erwecken, damit sie an
das Morgengebet ermahnt werden und die Arbeit nicht ver—
säumen. Darum ruft es mit freundlicher Stimme ins Dorf
hinein:
„Kling — klang!
Aufstehen und beten gehen,
dann die Arbeit froh versehen;
kling — klang!“
3. Und wer dem Glöcklein freudig gehorcht, dem wird den
Tag über jede Arbeit leicht. Gottes Segen begleitet ihn, und
er ist froh gelaunt bei all seinem Tun. Kaum weiß er, wie
die Zeit dahineilt, und ehe er noch daran denkt, ist schon die
Mittagsstunde da. Laut ruft jetzt das Glöcklein wieder:
„Kling — kllang!
Geh zu Tisch;
mit Brot und Fisch
tut der Herr die Seinen speisen;
wollt ihn preisen!
Kling — klang!“
4. Und kommt der Abend, so schaut das Glöcklein sich
um. Es sieht nach, ob noch ein Arbeiter in Feld und Wald
Neue Magdeburger Unterstufe von 1909.
5