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Heiden ziehen, sein liebes Trier und sein treues Weib verlassen mußte.
Er rief einen seiner Dienstmannen, namens Golo, und befahl ihm:
„Bringe deine Herrin auf meine Burg Simmern im Maifelder Gau und
schütze und behüle sie!“ Golo gelobte unwandelbare Treue, und Siegfried
5 zog ruhig und getrost in die Fremde.
Golo aber war ein Schelm und ein falscher Mann, den es nach der
Herrschaft gelüstete. „Gewinne ich die Pfalzgräfin,“ so dachte er, „so
gewinne ich mir Land und Leute, und ehe noch der Pfalzgraf heimkehrt
— und wer weiß, ob er überhaupt heimkehri — bin ich der Fürst.“
10 Kaum war also Siegfried fort, so begann er seinen tückischen Verrat.
Die Pfalzgräfin aber wies ihn mit Abscheu von sich. Da schrieb er
falsche Briefe, in denen stand, daß der Pfalzgraf mit allen seinen Kriegern
ertrunken wäre. Die las er der Herrin vor und setzte hinzu: „Jetzt
gehört das Reich mir, und du kannst meine Gemahlin werden.“ Sie aba
15 wandte sich zornig ab, und er merkle wohl, daß er nichts ausrichten
würde. Da änderte er seinen Siun. Er nahm der edeln Frau alle
Diener und Mägde, so daß sie die größte Not liit. Als sie einen schönen
Sohn gebar, war nur eine arme Waschfrau bei ihr, die sie tröstete
Endlich hörte sie durch einen Boten, daß Siegfried noch lebe, zu Straß—
20 burg weile und bald heimkehren werde. Auch Golo erhielt die Nachricht
und erschrak heftig. Eine alte Frau aber sprach zu ihm: „Warum machst
du dir solche Sorgen? Der Kluge baut vor. Sage doch dem Pfalz—
grafen, Genoveva sei ihm untreu geworden und liebe den Koch.“ Das
gefiel dem Verräter, und er zog seinem Herrn entgegen und erzuhlte ihm
die Lüge. Siegfried wurde traurig und seufzte: „Was soll ich tun?“
Golo erwiderte: „Es ziemt sich nicht, daß du sie noch dein Weib nennst.
Ich will die Unwürdige mit ihrem Kinde an den See führen und dort
beide im Wasser erträuken.“ Ver Pfalzgraf willigte ein.
Nun übergab Golo Mutter und Kind zwei Knechten und befahl
30 ihnen, sie zu töten. Die Knechte brachten sie in den nahen Wald. Als
sie aber die Tat ausführen wollten, sagte der eine: „Was haben diese
Unschuldigen getan? Man kann der Pfalzgräfin wahrlich nichts Böses
vorwerfen.“ Und da auch der andere Muleid empfand, so beschlossen fie,
ihre Hände nicht mit so unschuldigem Blute zu beflecken. Sie ließen des⸗
35 halb Genoveva mit ihrem Kinde in der Wildnis und gingen fort. Um
aber ein Wahrzeichen für Golo zu haben, rissen sie einem Hunde die
Zunge aus, zeigten sie dem Verräter und sprachen: „Wir haben Genoveva
getötet, hier ist ihre Zunge.“
Als die Pfalzgräfin sich verlassen sah, weinte sie bitterlich; denn ihr
10 Söhnlein war noch nicht dreißig Tage alt, und sie selbst war so entkräftet,
daß sie keine Nahrung für es hatte. In ihrer großen Not hob sie die
Arme gen Himmel und flehte Gott um Hilfe an. Siehe, da sprang
plötzlich eine Hindin durch das Gesträuch und legte sich neben das Kind⸗—
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