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im Kerker. Wir können es verstehen, daß sie Faust nicht folgen will,
als er kommt, sie vor dem Urteilsspruch zu retten. Mephistopheles:
„Sie ist gerichtet!“ Stimme von oben: „Ist gerettet!“ Mephistopheles
zu Faust: „Her zu mir!“ —
Etwa io Jahre, nachdem Goethe die Sturm- und Drangperiode in
sich durchgekämpft hatte, trat Schiller auf. Auch er war gleich
Herder und Goethe und den übrigen Stürmern und Drängern ein be¬
geisterter Schüler und Freund Rousseaus. Aber während sich alle
übrigen auf die Fragen der Sitte und Bildung beschränkten, hielt sich
Schiller fast ausschließlich an die politische und soziale Seite der
Rousseauschen Lehren; er richtete seine Angriffe hauptsächlich auf
die Zustände und Schäden in Staat und Gesellschaft.
Das erste Drama Schillers, die Räuber (1781), wurzelte in dem
Traumbilde Rousseaus, daß früher ein Naturzustand vorhanden ge¬
wesen, der sich zu der heutigen Bildung wie Gesundheit zur Krankheit
verhalte. Karl Moor, der Reine und Edle, wird durch die Ränke
seines böswilligen Bruders um Vater und Geliebte betrogen. Ver¬
zweifelt faßt er den Entschluß, sich von der Gesellschaft loszusagen,
um an der Spitze einer Räuberbande gegen die Niedertracht der Welt
anzukämpfen und das verlorene Paradies der Menschheit wiederher¬
zustellen. Franz, der abgefeimte Bösewicht, ist nicht bloß Bösewicht
von Naturanlage, sondern aus kalter Überlegung. In den beiden feind¬
lichen Brüdern stehen sich demnach Natur und Kultur im Sinne
Rousseaus gegenüber. Am Schlüsse des Stückes siegt die Welt, wie
sie besteht; der Vermessene, der da wähnte, die Welt durch Greuel
verschönern, und die Gesetze durch Gesetzlosigkeit aufrechterhalten
zu können, stellt sich freiwillig dem Gerichte. Aber mit dem Herzen
waren Dichter und Zuschauer auf der Seite „des erhabenen Ver¬
brechers“; beide, Dichter und Zuschauer, grollten der Bildung und
Gesellschaft, die soviel Kraft und Seelengröße auf falsche Wege trieb.
Fiesco, das zweite Drama Schillers, ist tatsächlicher; wir be¬
finden uns auf dem festen Boden der Geschichte; es handelt sich um
die Frage, wie menschenwürdige Freiheit innerhalb des staatlichen
Daseins verwirklicht werden könne. Fiesco, der zuerst das Haupt
des republikanischen Aufstandes gegen die Alleinherrschaft des Dogen
Andreas Doria ist, zuletzt aber selbst nach dem Throne strebt, wird
durch Verrina, den edlen unbeugsamen Republikaner, gestürzt. — Ur¬
sprünglich hatte es Schiller auf die Verherrlichung republikanischer
Größe und Freiheit abgesehen. Aber der geschichtlich überlieferte
Stoff widersprach der Absicht des Dichters, indem die Geschichte nur
eine gescheiterte und besiegte Revolution bot. So kommt es, daß sich
die Absicht des Dichters und das Drama nicht völlig decken, und daß
Schiller eine Theaterbearbeitung unternahm, in welcher ohne Rück¬
sicht auf die geschichtlichen Tatsachen die Republik zum Siege ge¬
führt wird. Fiesco überwindet sich; er weist die Krone zurück und
findet seine Befriedigung darin, als Bürger eines freien Staates zu
leben.
Das dritte Drama Schillers, Kabale und Liebe, stand unmittelbar
in der nächsten Gegenwart. Der Dichter zeigt uns den Kampf des