Full text: [Teil 3 = 4. Schuljahr, [Schülerband]] (Teil 3 = 4. Schuljahr, [Schülerband])

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15. Juni. 
1. Wenn die wilden Rosen blühn an des Feldes Rand, frisch 
gemähtes Wiesengrün duftet durch das Land, wenn in stillen Waldes— 
gründen sich die roten Beeren ründen, wenn der Himmel blaut so weit: 
o du schöne Rosenzeit! 
2. Hell und warm ist nun die Nacht! Länger wird der Tag, 
daß er all der Schönheit Pracht in sich fassen mag! Frühling ist noch 
nicht gegangen, Sommer hat schon angefangen, beide hold vereinigt 
prangen, Herbst und Winter sind noch weit: o du schöne Rosenzeit! 
3. Ja, in Rosen steht die Welt, aber ahnungsbang rauschet durch 
das AÄhrenfeld schon ein fremder Klang: bald ertönt der Erntereigen, 
und die Rose wird sich neigen, und die Vögel werden schweigen! Ach, 
wie bald — dann liegst du weit: o du schöne Rosenzeit! 
Seidel. 
16. Wie die Vögel singen lernen. 
Es war ein sehr schöner Maimorgen, als ich einmal ganz in 
der Frühe durch den grünen Wald ging. Die Sonne war auch erst 
aufgegangen und schaute sich mit grossen Augen darin um, dals 
die Tautropfen auf den Blättern vor Freude blinkten und glitzerten; 
und überall von den Zweigen guckten die Vögel herunter, badeten 
sich im frischen Tau und sangen mit heller Stimme ein Lied. 
O du mein Gott, dacht ich, wie's doch so schön ist auf 
deiner Welt! — Und als ich weiter ging, bekam ieh einen guten 
Tag uüber den andern von den muntern LTieérchen. Da fragte ich 
so ein junges Vögelebhen, das wacker mitgeschrien hatte, von 
wem's denn in aller Welt einen so köstlichen Gesang gelernt habe, 
bei welehem dem Wanderer vor Freuden das Herz hüpfe? 
„Ei, von meiner Mutter!“ wurde die Antwort gezwitschert. 
— Die Mutter, die auf dem nächsten Zweige sals und meine Prage 
gehört hatte, sagte freundlich: „Und ich hab's von meiner Mutter, 
aber das ist schon sehr lange her!“ — „Und deine Mutter?“ — 
„Von der Grossmutter; aber das ist ja schon eine Ewigkeit.“ 
Und weiter hinauf wussten sie's gar nicht mehr. — 
Da war aber ein anderer Vogel, der schon vor Alter mit dem 
Kopfe wackelte und über die Massen klug und gelehrt aussah, der 
nahm das Wort und bedeuteté mich: „Als die Welt erschaffen
	        
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