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Rechten schwenkte. Sein Auge durchspähte den Leib Hektors,
forschend, wo etwa eine Wunde haften könnte. Da fand er alles
blank von der geraubten Rüstung umhüllt; nur wo Achsel und
Hals das Schlüsselbein verbindet, erschien die Kehle, die gefährlichste
Stelle des Lebens am Leibe, ein wenig entblößt. Dorthin lenkte
Achilles schnell besonnen seinen Stoß und durchstach ihm den Hals
so mächtig, daß die Lanzenspitze zum Genick herausdrang. Doch
durchschnitt ihm der Speer die Gurgel nicht so, daß der Verwundete
nicht noch reden konnte, obgleich er in den Staub sank, während
Achilles laut frohlockte und den Leichnam Hunden und Vögeln
preiszugeben drohte. Da begann der liegende Hektor, schon schwächer
athmend, zu flehen: „Ich beschwöre dich bei deinem Leben, Achilles,
bei deinen Knien, bei deinen Eltern, laß mich bei den Schiffen der
Danaer nicht die Hunde zerreißen! Nimm Erz und Gold, so viel
du willst, zum Geschenk und entsende dafür meinen Leib nach
Troja, daß Männer und Frauen dort ihm die Ehre des Scheiter¬
haufens zu theil werden lassen!" Aber Achilles schüttelte sein
fürchterliches Haupt und sprach: „Beschwöre mich nicht bei meinen
Knien und meinen Eltern, du Mörder meines Freundes! Niemand
sei, der dir die Hunde verscheuche von deinem Haupt, und wenn
mir deine Landsleute zwanzigfältige Sühnung darwögen und noch
mehr verhießen, ja, wenn dich Priamus mir selbst mit Gold auf¬
wägen wollte!" — „Ich kenne dich, stöhnte Hektor sterbend, ich
ahnte, daß du nicht zu erweichen sein würdest; dein Herz ist eisern.
Aber denk an mich, wenn die Götter mich rächen, und am hohen
Skäischen Thore du, von dem Geschosse des Phöbus Apollo getroffen,
im Staube endest wie jetzt ich!" Mit dieser Weissagung verließ
Hektors Seele den Leib und flog zürn Hades hinunter. Achilles
aber rief der fliehenden nach: „Stirb du; mein Loos empfang ich,
wann Jupiter und die Götter wollen." So sprach er und zog
den Speer aus dem Leichnam, legte ihn beiseite und zog die
eigene, blutige Rüstung von den Schultern des Gemordeten.
Nun kamen aus dem griechischen Heere viele Streiter herbei¬
gelaufen und betrachteten bewundernd den Wuchs und die hohe
Bildung des todten Hektor, und mancher sprach, ihn anrührend:
„Wunderbar, wie viel sanfter ist doch der Mann nun zu betasten,
als da er den Feuerbrand in unsere Schiffe schleuderte!" Jetzt
stellte sich Achilles mitten unter das Volk und sprach: „Freunde
und Helden! Nachdem die Götter mir verliehen haben, diesen
Mann hier zu bändigen, der uns mehr böses gethan hat, als alle
anderen zusammen, so laßt uns in unserer Rüstung die Stadt ein
wenig auskundschaften, um zu erforschen, ob sie uns wohl die
Burg räumen werden, oder ob sie es wagen, uns auch ohne Hektor
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