der Alpen den vornehmen Touristen. Sie wissen den steilen Pfad,
der unscheinbar, aber gerader ans den Gipfel führt als die gewundene
Straße philosophischer Bildung, den Pfad des Glaubens und der
Frömmigkeit. Aber hinauf müssen wir alle, wollen wir nicht in der
Blindheit und Enge ersticken, wollen wir die Welt und uns selbst im
Lichte sehen. Nicht bloß der Krämer und Philister, auch der Gelehrte
muß sich gewöhnen, den Kreis seiner Sorgen aus der Höhe zu be¬
trachten, um seiner Begrenztheit innezuwerden, muß seine Blicke
weiter dehnen über die Pfähle seines Hauses und die Hügel seines
Dorfes zu den Aufgaben des Ganzen, der Menschheit. Und wirklich
finden alle, der Gelehrte wie der Ungebildete, den höchsten Standort,
wenn sie des Allerhöchsten gedenken.
Wie die Ferne Erhebung, so gibt die Nähe Erquickung. Ein Gefühl
der Gesundheit und der wohligen Freude strömt durch die Glieder;
ist es die kühle Luft, der würzige Hauch der Matten, das Meer von
Sonnenlicht, die friedliche Stille, die Einfachheit des Lebens: kurz,
wir fühlen uns froher und glücklicher in der einfachen Hütte als drunten
iu glänzenden Sälen. Das erfrischende „Atemholen der Seele" ist
nach Goethes bekanntem Wort des Gebet. Wieviel Druck und Not,
wieviel Trauer und Furcht, wieviel Ekel und Müdigkeit hat solch
tieferes Atmen in Gottes Nähe von gequälten Menschenherzen weg¬
gehoben! Was sinnliche Lust, befriedigter Ehrgeiz, wissenschaftliche
Erfolge nicht vermochten, ein wundes Herz heilen und trösten, das
vermag die Religion mit ihren reineren, geistigen Freuden.
Eines nur scheint der Hochregion zu fehlen: die Fruchtbarkeit.
Von Stufe zu Stufe büßt das Leben, das im Tale üppig grünt, den
Berg hinauf einen Teil seiner Kraft, Glut und Farbe ein, bis es
droben müde und fröstelnd zusammenbricht und im Leichentuch des
ewigen Schitees begraben wird. So scheint auch die religiöse Beschau¬
lichkeit bei aller ibealen Befriedigung, die sie gewährt, eilte Feindin
des gesunden Realismus, des blühenden Kulturlebens zu sein; je
mehr die „himmlische" Gesinnung ein Zeitalter beherrscht, so sagen
manche, um so weiter liegt die Arbeit unb ihr greifbarer Segen
hinter ihm.
Auch hier läßt uns die Symbolik der Natur nicht im Stiche.
Siehst du nicht, wie es rinnt und rieselt aus dem frischgefallenen
Schnee, aus dem stahlblauen, tausendjährigen Gletscher? Der Hauch
der Frühlingswinde, der warme Kuß der Sonne iveckt überall aus dem
Tode beit sprudelnden Quell des Lebens. Die Bächlein netzen die
Flur, tränken die Herden, treiben die Räder; der Gießbach sendet
ans seinem Sturze die Helle elektrischeit Lichtes in Straßen unb Paläste,
hebt gewaltige Lasten, dreht die Maschinen der Fabriken. Und weit
iit der Ferne ziehen die Ströme, mit Schützen beladen, und grüßen