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34. Der kluge Staar.
Nach Aesop.
Ein durstiger Staar wollte trinken. Vor ihm stand eine Flasche mit
Wasser; doch er konnte dasselbe mit seinem kurzen Schnabel nicht erreichen.
Er wollte das Glas nun zerhacken; aber es war zu dick. Da versuchte er,
die Flasche umzuwerfen, allein dazu war er wieder zu schwach. Endlich kam
er auf einen glücklichen Einfall. Er suchte Steinchen zusammen und warfs
sie in die Flasche. Dadurch stieg das Wasser allmählich so hoch, daß der
Staar es mit seinem Schnabel erreichen und so seinen Durst stillen konnte.
35. Zwei Gespräche.
Reinick.
Es war ein heitrer Frühlingsmorgen; ich stand im Dorfe auf
dem Kreuzwege, wo das kleine Brückchen rechts gleich in die Schule
führt, der größere Fußweg aber links nach der Wiese sich fort⸗0
schlängelt. Da hörte ich, wie zwei Knaben Folgendes sprachen.
„Guten Tag, Karl!“
Guten Tag, Michel!
„Wo gehst du hin, Karl?“
In die Schule, Michel! 15
„Ei was! In der Schule ist's garstig, da muß man lernen;
draußen auf der Wiese sollst du einmal sehen, da ist's jetzt hübschl
Komm, wir wollen dahin spielen gehen, Karl!“
Am Abend, Michel; jetzt geh' ich lernen; ade!
„Meinetwegen, geh du arbeiten, Karl, ich geh' spielen; 2
ade!“ — —
Zwanzig Jahre darauf stand ich in demselben Dorfe auf
derselben Stelle. Es war ein böser, kalter Wintertag. Ein blasser,
ärmlich gekleideter Mensch klopfte an der Thüre des Schulhauses
an. Der Schullehrer, ein rüstiger, stattlicher Mann, öffnete diese, 2
und ich hörte nun die beiden Folgendes sprechen:
„Guten Tag, lieber Herr!“
Guten Tag, lieber Mann!
„Ach Herr, erbarmt euch mein!“
Was verlangt ihr denn von mir?
„Arheit, Herr! Ich will euch die Schulstuben fegen, ich will
euch die Ofen heizen oder andere Dienste der Art thun. Nehmt
mich auf!“